Atlantropa

Dieses Thema im Forum "Netzwelt" wurde erstellt von ~LasVegas~, 16. April 2007 .

  1. 16. April 2007
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    Weg mit dem Mittelmeer: Die Geschichte eines Größenwahns.

    Eine Pforte zum Paradies sollte es sein. Ein Gebirge aus Beton. Der gewaltige Staudamm würde in der Meerenge von Gibraltar den Atlantischen Ozean vom Mittelmeer abriegeln. In einem 35 Kilometer langen geschwungenen Bogen von Spanien bis nach Marokko.

    Ein 1600 Meter breites Dammfundament am Meeresgrund! Eine Dammkrone, die in 300 Meter Höhe noch immer an die 100 Meter breit wäre! Die Kraft von bis zu 88000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde, so viel wie zwölf Niagarafälle, sollte gewaltige Turbinen antreiben und Strom erzeugen. Mit einer Leistung von 50000 Megawatt wäre es das größte Kraftwerk der Welt – genug Energie für ganz Europa! Im Osten würde die Dardanellen ebenfalls mit einem Staudamm verschlossen und die Wasserkraft durch Stromgeneratoren geleitet.

    Vor allem aber sollten die Stauwerke den Wasserspiegel des Mittelmeers um bis zu 200 Meter absenken. Um Platz zu schaffen für mehr als eine halbe Million Quadratkilometer neues Festland – eine Fläche, so groß wie Frankreich und Belgien. Und um Europa und Afrika zu einem neuen Kontinent zu verbinden: Atlantropa! Eine beherrschende Weltmacht. Ein Reich des Friedens mit Energie und blühendem Lebensraum im Überfluss. Eben eine Art Paradies auf Erden.

    Atlantropa wurde nie erschaffen. In der Öffentlichkeit ist das Projekt in Vergessenheit geraten. Doch Atlantropa war mehr als nur der Lebenstraum des Münchner Architekten Herman Sörgel (1885 – 1952). Es ist die Geschichte eines technischen Größenwahns – und eines selbst ernannten »Weltbaumeisters«, der mithilfe der Technik das Antlitz der Erde verändern wollte.

    Zu Sörgels Lebzeiten galt Atlantropa als »kühnster Plan seit Menschengedenken«. Die Presse bejubelte Sörgel Anfang der 30er Jahre wie einen Popstar der Baukunst und verglich ihn mit Goethes dramatischer »Faust«-Gestalt, ja sogar mit Christoph Kolumbus. Sich selbst sah Sörgel gern in der gebieterischen Geste des britischen Admirals Nelson bei der Schlacht von Trafalgar. Dabei war der Mann durchaus kein entrückter Sonderling. Sörgel galt als der bedeutendste Architekturpublizist der Weimarer Republik und wusste viele renommierte Baumeister und Ingenieure an seiner Seite. Noch heute nennt sein Biograf Wolfgang Voigt, Stellvertretender Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main, Atlantropa »die gigantischste technisch-architektonische Utopie des zwanzigsten Jahrhunderts«.

    Als praktischer Architekt war Sörgel freilich eine gescheiterte Existenz. Fortwährend entwarf er Pläne, zeichnete Plätze, Häuser und Kraftwerke. Nichts davon wurde je verwirklicht. In seinem gesamten Leben baute er gerade mal eine Villa und ein Ferienhaus. Sörgel fühlte sich eher »zu theoretischen und spekulativen Betrachtungen hingezogen«. Schon bald war der stets sorgsam gekleidete Herr mit dem Monokel im rechten Auge in den Künstlerkreisen von Schwabing als charismatische Figur bekannt. In den Cafés und Wirtshäusern hockten die Bohemiens und debattierten über eine bessere Welt.

    Der Schock des verlorenen Ersten Weltkriegs steckte ihnen in den Knochen. Das zweifelhafte Idyll des Kaiserreichs war zerbrochen, die erschreckende Gewalt des Krieges hatte die Menschen traumatisiert. Die Siegermächte demütigten die Deutschen mit den Reparationsforderungen des Versailler Vertrags. Eine katastrophale Inflation führte zu Hunger und Massenarbeitslosigkeit.

    Als sich Sörgel 1927 seiner Mittelmeer-Vision zuwandte, spürte er bereits, dass das rohstoffarme Europa auf eine Wirtschaftskrise zusteuerte. Die Arbeitslosigkeit explodierte, die Ölpreise stiegen. Der industrialisierte Kontinent verbrauchte mehr Energie, als er erzeugen konnte. Sörgel hielt die Alte Welt für nicht mehr lebensfähig.

    In seinem Buch »Mittelmeer-Senkung« schrieb er zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929: »Das letzte politische Ziel meines Projekts ist die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Weltteil zwischen Panamerika und Asien.«

    Sörgel träumte vom Zusammenschluss der Bildung und Technik Europas mit dem Wachstumspotenzial, dem Länderreichtum und den Bodenschätzen Afrikas. »Panropa«, das wenig später zu Atlantropa umgetauft werden sollte, war in Sörgels Kopf geboren. Schon Thomas Jefferson, Mitbegründer der USA, notierte während einer beschwerlichen Italienreise im Frühjahr 1787 in seinem Tagebuch den bizarren Einfall, das Appeninengebirge abzutragen und mit dem Abraum die Adria zuzuschütten, »um das Meer von Livorno bis Konstantinopel in Festland zu verwandeln«.

    Zu dieser Zeit begeisterte sich die bürgerliche Aufklärung für den Typus des titanenhaften Planers, der erstmals bei Goethe im »Faust II« 1832 literarische Kontur gewann. Als Deichbauer und Kolonisator trotzt Heinrich Faust dem Meer Land ab, um dort Millionen Menschen anzusiedeln. Sörgel war sich der geistigen Tradition bewusst. Seiner ersten Atlantropa-Veröffentlichung stellt er ein Faust-Zitat voran: »Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.«

    Inspirieren ließ sich Sörgel aber vor allem von Herbert George Wells, dem englischen Autor der »Zeitmaschine«, der 1920 das aufsehenerregende Sachbuch »The Outline of History« (Abriss der Geschichte) veröffentlicht hatte. Wells vertrat darin die bis heute umstrittene These, das Gebiet des Mittelmeers sei vor 25000 Jahren trockenes Land gewesen. Erst als ein Gebirge bei Gibraltar dem Druck des eiszeitlichen Schmelzwassers nicht mehr standhalten konnte, kam es zur Überschwemmung.

    Mit seinem Staudamm bei Gibraltar wollte Sörgel jenes einst trennende Gebirge zwischen Mittelmeer und Atlantik ersetzen und mithin Teile eines verlorenen Paradieses zurückgewinnen. Sein Selbstverständnis offenbarte Sörgel 1935 in der programmatischen Schrift »Die Neugestaltung der Erdoberfläche durch den Ingenieur«: »Die epochalen Großunternehmungen stempeln den Ingenieur zum Weltbaumeister, zum Befreier der Menschheit.«

    Ökologische Erwägungen beschäftigten Sörgel ebenso wenig wie soziale Fragen. Zehn Jahre lang sollten eine Million Arbeiter in vier Tagesschichten rund um die Uhr den Gibraltar-Damm bauen. Logistische Details, wie denn pro Schicht 250000 Arbeitskräfte abtransportiert werden könnten, während zeitgleich die nächste Viertelmillion Menschen ihre Arbeit antreten, kümmerten ihn nicht. Für Sörgel zählte allein die Idee des weltgrößten Wasserkraftwerks, das elektrischen Strom im Überfluss erzeugt und in ein Verbundnetz speist, um ganz Europa mit Energie zu versorgen. Die Zusammenarbeit der einzelnen Staaten sollte einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen und neue Kriege verhindern.

    Die fehlende Zufuhr von Atlantikwasser würde den Spiegel des Mittelmeers jedes Jahr um einen Meter senken. Erst nach 250 Jahren hätte die Absenkung östlich von Tunis die Endstufe von 200 Metern erreicht. Diesen Zeitraum veranschlagte Sörgel, um das entstehende Neuland rund ums Mittelmeer mit neuen Hafenstädten zu bebauen. Ein Vierteljahrtausend lang Arbeit und wirtschaftliches Wachstum für Generationen von Menschen!

    Die zahlreichen Einwände gegen sein Vorhaben vermochten Sörgel nicht zu beirren. So dürfte der hohe Salzgehalt des Mittelmeers sich durch Verringerung der Wassermenge weiter erhöhen, wie Kritiker meinten. Sie prophezeiten anstelle fruchtbaren Neulands einen salzverkrusteten Boden, der nur mit erheblichen Anstrengungen überhaupt urbar gemacht werden könnte. Auch die Bodenkultivierung der Sahara, die Sörgel in Afrika plante, wäre ohne eine aufwendige Salzwasser-Aufbereitung undenkbar. Ein weiteres Handicap war die Entlastung der Mittelmeerfläche vom Gewicht einer bis zu 200 Meter hohen Wasserschicht. Dies würde sich auf das Gefüge der Erdkruste auswirken und womöglich ungeahnte Erdbeben auslösen. Sogar vor einer Verschiebung der Erdachse wurde gewarnt.

    Mitte der 30er Jahre dehnte Sörgel seine Pläne bis nach Zentralafrika aus. Im nordwestlichen Kongo wollte er einen Süßwasserstausee von 900000 Quadratkilometer Fläche entstehen lassen, der die Hälfte des Landes überfluten sollte. Die kalkulierten Wasserkräfte von 176000 Megawatt würden die Gesamtleistung der Mittelmeerwerke noch übersteigen. Mit einem Stichkanal sollte ein »Tschad-Meer« aus dem Kongo-See gespeist werden, um das Klima der Sahel-Zone zu verbessern. Im heutigen Sambia und Simbabwe wollte Sörgel den Sambesi-Fluss zu einem dritten See aufstauen.

    Die Bewässerung Afrikas sollte Wüsten begrünen und die Temperatur für künftige weiße Siedler senken. Der schwarze Kontinent als »geopolitisches Ventil« und neuer Lebensraum für die übervölkerte Alte Welt. Ein so genannter Tunisdamm sollte Sizilien mit Tunesien verbinden und einen trockenen Transportweg von Berlin bis Kapstadt schaffen. Ein neues Karthago, das heutige Tunis, würde als dominierende Hauptstadt Atlantropas größer und mächtiger sein als einst die Metropole in der Antike.

    Der afrikanische Teil Atlantropas spielte bei Sörgel die Rolle einer kolonialen Beute – als Lieferant billiger Arbeitskräfte und Rohstoffe. Anzahl und Lebensraum der Schwarzen sollte zugunsten zugewanderter Europäer beschränkt werden.

    Nach Hitlers Machtergreifung 1933 suchte Sörgel, trotz politischer Vorbehalte, zunächst die Unterstützung der Nazis für sein Projekt. Der Pazifist und Internationalist galt den NS-Machthabern jedoch als politisch unzuverlässig. Zwei Jahre vor Kriegsende erteilte ihm das Propagandaministerium sogar ein vollständiges Publikationsverbot. Erst in der Nachkriegszeit erlebte die Atlantropa-Idee wieder eine Konjunktur. Das Atlantropa-Institut, 1941 gegründet, zählte 1950 an die 1200 Mitglieder.

    Bis in die New Yorker UNO-Zentrale fand Sörgel interessierte Gesprächspartner. Sein Vorhaben scheiterte dennoch. Im Dezember 1952 wurde der nunmehr 67-Jährige auf der Münchner Prinzregentenstraße von einem Auto erfasst. Der Fahrer flüchtete, und Sörgel starb am ersten Weihnachtstag an den Folgen seiner Verletzungen. Sechs Jahre später wurde das Atlantropa-Institut aufgelöst. Die Kernkraft hatte als neues Symbol des technischen Fortschritts die Köpfe der Menschen erobert. Der angeblich billige Atomstrom verhieß eine weitaus attraktivere Energiezukunft als Sörgels aufwendige Dammbauten und Wasserkraftwerke.

    Der Typus des Weltbaumeisters ist mit Sörgel keineswegs untergegangen. Im Gegenteil. Schon Zeitgenossen Sörgels wie der Amerikaner Frank Lloyd Wright und der Grieche Yannis Xenakis entwarfen kilometerhohe Turmbauten. Dessen Landsmann, der Städteplaner und UN-Berater Constantinos Doxiadis, und der Schweizer Fritz Haller entwickelten Megastädte, die sich als zusammenhängende Rasternetze rund um den Planeten erstrecken. Ökologische Zusammenhänge wurden hierbei selten bedacht.

    Mittlerweile hat der westliche Lebensstil mit seinem industriellen Raubbau an der Natur zur ökologischen Weltkrise geführt. Heute werden technologische Großprojekte unter umgekehrtem Vorzeichen geplant. Um das Überleben der Menschheit zu gewährleisten, wollen die Weltbaumeister unserer Tage die Erde neu gestalten.

    Auch Atlantropa-Pläne werden wieder hervorgeholt. Der Geophysiker Robert G. Johnson von der University of Minnesota befürchtet durch den steigenden Salzgehalt des Mittelmeers eine neue Eiszeit. Weil der Assuan-Stausee in Ägypten seit den 80er Jahren verhindert, dass der Nil große Mengen Süßwasser ins Mittelmeer leitet, werde bei Gibraltar eine kalte Salzlake in den Atlantik fließen und vom Golfstrom nach Westen gelenkt werden. Die Folge wären fallende Temperaturen in Nord- und Mitteleuropa. Nur ein Staudamm bei Gibraltar könnte das Klima Europas stabilisieren und eine drohende Eiszeit verhindern. Nach Johnsons Berechnungen würden die Baukosten eines Gibraltar-Damms immerhin weitaus niedriger sein als die durch eine Klimaabkühlung verursachten Schäden.

    Kostspieliger fallen da schon die Vorstellungen des kalifornischen Geografen Richard B. Cathcart aus. Er geht von der gegenwärtigen Erwärmung des Weltklimas aus und will für eine Billion Dollar das Atlantropa-Projekt in veränderter Form verwirklichen, um bei steigendem Meerwasserspiegel die Mittelmeerländer vor drohenden Landverlusten zu bewahren. Obendrein denkt Cathcart in der Tradition Herman Sörgels an eine Kultivierung und Besiedlung der Sahara.

    Bislang existieren solche Vorhaben gerade mal auf dem Reißbrett. An ihre Verwirklichung denkt kaum jemand. Vor allem wohl, weil diese »Makro-Luftschlösser«, wie Sörgel-Forscher Wolfgang Voigt sie nennt, allenfalls »die Illusion nähren, die galoppierenden Umweltprobleme ließen sich durch zukünftige Großtechnik lösen, ohne Abstriche am westlichen Way of Life«.

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