Die Wahrheit - Opfer des Aufschwungs

Dieses Thema im Forum "Humor & Fun" wurde erstellt von Haitower, 24. Januar 2008 .

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  1. 24. Januar 2008
    Der Arbeitsmarkt boomt.
    Immer mehr Arbeitslose verlieren ihren Job - wie Andi G.



    Herausgerissen aus dem Nichtstun: Fensterputzer in der Reichstagskuppel.


    Mit Grauen erinnert sich Andi G. an den Mittag, der sein Leben aus der
    Bahn warf:
    "Der Personalchef rief mich in sein Büro, drückte mir kalt
    lächelnd einen Füller in die Hand", schluchzt der 37-jährige. "Ich
    verstand gar nicht, was er von mir wollte, ich war total übermüdet. Doch
    auf dem Schreibtisch lag schon der Arbeitsvertrag."

    So wie Andi G. geht es vielen, seit die Arbeitslosigkeit in diesem Land
    verschwindet. 600.000 weniger Arbeitslose als vor einem Jahr - es ist
    nur eine Zahl, aber dahinter stehen 600.000 Einzelschicksale: Menschen,
    deren mühsam aufgebaute Existenz mit einem einzigen Federstrich
    vernichtet wird, einem Federstrich von eigener Hand, dessen Konsequenzen
    sie überhaupt nicht überschauen können.

    Auch Andi G. erkennt erst am Tag des Arbeitsantritts, dass er mit einem
    Mal vor dem Nichts steht: morgens um viertel nach sechs, als der Wecker
    klingelt. Doch das ist erst der Anfang, es kommt noch schlimmer: Nach
    neun entsetzlichen Stunden, in denen er eine Fensterscheibe nach der
    anderen putzen muss, fällt er abends gerädert in sein Bett, kann kaum
    schlafen vor lauter quälender Zukunftsangst. Wird das jetzt immer so
    weitergehen: Glasfassade für Glasfassade, Monat für Monat, Jahr für Jahr ?

    Augenblicklich fühlt sich Andi G. wertlos. Aus Scham verschweigt er
    sogar guten Freunden, was ihn morgens aus dem Haus treibt: "Ich hab mich
    mit meiner Münzspielsucht herausgeredet, hin und wieder sogar von
    zehnstündigen Puffbesuchen erzählt." Alles erscheint ihm besser als die
    Wahrheit. Und die lautet: Erstmals im Leben geht er regelmäßig zur
    Arbeit, lässt sich ausbeuten, führt ein fremdbestimmtes Leben.

    Bereits nach der ersten Arbeitswoche fällt er in ein tiefes Loch: Die
    Kanalisation vor dem Haus wird repariert, die ungesicherte Baustelle ist
    in der Morgendämmerung kaum zu erkennen. Zwar kommt er mit dem Schrecken
    davon; bald jedoch ist er von allen seinen Freunden isoliert. Sie lassen
    es weiterhin Tag und Nacht krachen, mokieren sich über seinen Rückzug
    von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen und nehmen auf seine
    Arbeitszeiten und Schlafbedürfnisse keine Rücksicht.

    "Die Isolation ist furchtbar", flüstert Andi G., schaut befremdet auf
    seine schwieligen Hände und zupft nervös die aufgeweichte Haut von
    seinen Fingerkuppen. "Am schlimmsten aber ist die Sinnlosigkeit: Du
    wischst eine Fensterfront, und eine Woche später ist sie wieder
    dreckig." Schwer zu schaffen macht ihm auch der Alkohol- und
    Kohlehydratentzug: "In der Kantine gibt es immer nur ausgewogene
    Mahlzeiten, frisches Gemüse, Putenbrust. Und wenn alle um dich herum
    Mineralwasser trinken, wirst du irgendwann schwach und trinkst mit."

    Die tiefe Hoffnungslosigkeit, die ihn ergreift, wächst sich bald zu
    einer Depression aus. Er klagt über Rückenschmerzen, Unwohlsein, einen
    ständig klaren Kopf: "Diese endlose Leere und Verzweiflung - ich
    verbringe ganze Tage damit, nur durch Fensterscheiben zu starren.
    Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, mich vor den nächsten Zug zu
    werfen. Aber wann?! Seit ich arbeiten gehe, habe ich ja für nichts mehr
    Zeit."

    Freude leuchtet in seinem Gesicht lediglich auf, wenn er von früher
    erzählt: "Ich war integriert, mein Job als Arbeitsloser gab mir Halt und
    meinem Tag eine Struktur: Aufstehen um halb eins, ein paar Bier aus dem
    Kühlschrank holen, das Nachtprogramm von RTL II zu Ende gucken."
    Tagsüber dann Besuche bei Freunden, Verwandten und dem Kiosk, daneben
    1.000 Hobbys, darunter das abwechslungsreiche Fernsehprogramm, die DVDs,
    die Playstation - doch das ist alles lange vorbei. Kein Wunder, dass
    sich der Ex-Arbeitslose seiner Resignation ergeben hat und zusehends an
    sich selber zweifelt: "Ich frag mich immer: Warum ausgerechnet ich? Es
    ist ja nicht so, als ob es überhaupt keine anderen Arbeitslosen mehr gäbe."

    Das stimmt zwar - noch. Doch das Bedrohungsgefühl wächst auch unter
    denen, die weiterhin auf den Bänken im Park oder in der Einkaufszone
    hocken. Sie alle kennen jemanden, den es erwischt hat, und fürchten
    sich, ebenso zu enden. Und auch langjährige Arbeitsplatzbesitzer leiden
    unter dem Rückgang der Arbeitslosigkeit: Ihr Arbeitsplatz erscheint
    ihnen nichts mehr wert, seit fast jeder einen hat. Sie arbeiten
    automatisch schludriger, machen montags öfters mal blau oder kündigen
    an, einen Betriebsrat zu gründen - alles nur, um ihren Rauswurf zu
    provozieren. Doch ihre Hoffnung ist meist umsonst. So schnell lässt man
    heute keinen mehr gehen.

    Das weiß auch Andi G., selbst wenn er in letzter Zeit immer wieder
    denselben Traum hat:
    "Wenn ich noch mal ganz von vorne beginnen
    könnte... ", sagt er heiser, mit grauem, eingefallenen Gesicht.
    "Ein komplett vertrödelter Nachmittag am Fluss, mit einer Zweiliterbombe
    Rotwein... Aber das wird für mich wohl für immer ein Traum bleiben."
     
  2. 24. Januar 2008
    AW: Die Wahrheit - Opfer des Aufschwungs

    find ich cool. echt ein armer kerl. da wird das wahre leben erzählt! ich laß dir dafür mal ne bw da.
     
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