Ein neues Gesicht - Zwei Standpunkte

creative16 · 22. März 2011

Ausgehend von der Meldung, dass US-Amerikanische Ärzte das durch einen Stromschlag ausradierte Gesicht eines jungen Mannes wiederhergestellt haben, entstanden diese spontanen Gedanken.

Ein neues Gesicht - Zwei Standpunkte

Erste Gedanken/Einführung

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Wenn man Wolfgang Welsch Glauben schenkt, befinden wir uns in einem Zeitalter des Visualprimats, ausgelöst schon lange vor unseren Tagen, nämlich durch die antiken Griechen, die auch heute noch unsere abendländische Geschichte hauptsächlich prägen - Die Klassik stirbt eben nie. Auch war es nie elementarer als heute, eine Ideologie, einen Gedanken, ein Konstrukt ökonomischer, psychischer oder philosophischer Art, mit einem Gesicht zu verbinden. Denken wir nur an "Schmalzlöckchen" zu Guttenberg, "Pausenclown" Gaddafi, "Griesgram" Magath oder "Welterneuerer" Obama, um nur einige aufzuzählen.

Das Gleiche lässt sich in einer Spirale beliebig weit nach unten drehen, bis wir das komplexe, aber gleichermaßen visuell dominierte Feld der alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen betreten. Kommunikation ist nicht nur auf auditiver Verständigung, worüber auch immer, gefußt, sondern mindestens ebenso auf den Augenkontakt der Gesprächspartner, wie auf ihre irgendwie in den gehörten Sachzusammenhang passende, so zumindest der Plan, Gestik und Mimik.

Erste Vertiefung und erstes Fazit

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Noch deutlicher wird dies, wenn wir uns das omnipräsente Feld der Werbung und der intimeren zwischenmenschlichen Beziehungen angucken. Die Werbung, so sie nicht im Radio läuft, arbeitet hauptsächlich mit visuellen Eindruck, der zwar durch passende Laute unterstützt und unterschrieben wird, aber das, was am Ende bei uns ankommt, ist die lächelnde Frau in Dessous, der strahlende, altersmäßig irgendwo zwischen 25 und 50 liegende Biertrinker oder Autofahrer, und die stolz und verspielt grinsenden Kinder mit jedweder Art von Schokoladenprodukten.

Partnerschaften zwischen Männlein und Weiblein, sowie in sämtlichen neumodischen Variationen, die aufzuzählen zu lange dauerte, zehren in ihrer Grundlage vom gleichen Moment. Dem der Identifikation des Einen mit dem visuelle attraktiven Äußeren des Anderen. Niemand kann sich ohne zu Lügen in einer stilvoll eingerichtete Bar oder Lounge stellen und sagen, dass er oder sie eben dieses hässliche Entlein auserwählt hat mit ihm oder ihr zu kommunizieren, weil man sehe, dass es einen ganz ausgezeichneten Charakter haben müsse. Falls hier der Aufschrei der Empörung über einen vermeintlichen Chauvinisten durch die Reihen geht, so kann man das ganz schnell abkanzeln und auf das Pinocchioprinzip verweisen: Man fasse sich zunächst an die eigene Nase, bevor man das Riechorgan der Anderen malträtiert.

Man sieht also, dass die Basis für die meisten Beziehungen im Gutaussehen der Partner liegt - oder im Schlechtaussehen aller anderen Anwesenden, manchmal herrscht auch hier das Prinzip des Angebots und der Nachfrage. Attraktives Äußeres ist, wie der Zusatz schon sagt, aufmerksamkeitsheischend in einer Art und Weise, die eine visuelle Beschäftigung gleichsam erzwingt. Natürlich gilt das auch für fleischgewordene Quasimodos, aber dort liegt der Betrachtung, egal wie lang oder kurz sie ausfällt, kein Haben-Wollen, sondern ein Nicht-Haben-Wollen oder ein Ekel zugrunde.

Erstes Fazit: Will ich in der "Liebe" erfolgreich sein, sollte ich schön sein.

Zweite Vertiefung und zweites Fazit

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Dass unsere Staaten gleichzeitig altern, aber ökonomisch um jeden Preis fit bleiben wollen, schreit nach einer radikalen Werbungsstrategie für junge, erfolgsversessene Menschen. Diese sollten, wenn sie denn Aushängeschilder sein wollen, gut aussehen, denn wer hätte gerne einen Klumpfuß mit einem Gesicht wie ein Kartoffelacker als Aushängeschild einer ganzen Nation? Zu Guttenberg hätte in einer derartigen visuellen Verfassung wohl kaum so viel Eindruck gemacht, wie er es tat und immer noch tut.

Hiermit soll nicht gesagt werden, dass hässliche Menschen keinen Erfolg haben können, im Gegenteil. Ehrgeiz, Kreativität, ökonomische Rundumskills und ein gewisser Hang zum kleinen *****loch von Nebenan ist wichtig, um großen Erfolg zu haben. Und letzten Endes kann man gutes Aussehen heute ja schon mit Geld kaufen. Aber da Geld auch ein euphemistischer Ausdruck des Visualprimats ist - nicht wahr Herr Berlusconi? - verlagert sich der Bezugspunkt innerhalb der visuellen Bewusstseinswelt nur vom Subjekt zum Objekt. Aber das ist ein völlig anderes Thema und führte in gänzlich ausartende Sphären.

Zweites Fazit: Will ich im Beruf und im Privaten erfolgreich sein, muss ich gut aussehen und/oder Geld haben, passende Attribute wie oben angesprochen vorausgesetzt.

Dritte Vertiefung

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Menschen, die berufliches und privates Gutaussehen mit Reichtum verbinden, heißen Schauspieler, Musiker oder irgendwie anders, sind aber im Allgemeinen überschrieben durch das Wort "Unterhaltungskünstler". Auch hier läuft viel über das Aussehen. Megan Fox, Jessica Alba und Scarlett Johansson hätten bei all ihrem Talent und Untalent wohl kaum so großen Erfolg, wenn sie aussähen wie Bill von Tokio Hotel, der das darf, weil er so schön singt. Die genannten Damen dürfen das nicht, weil ihr Männer- und wohl auch Frauenblicke fressendes Äußeres eine der Grundlagen ihres persönlichen Status bildet.

Wir merken: Menschen, die uns tangieren, sind schön - oder eben abstoßend hässlich. Um Politiker und Wirtschaftsbosse scheren wir uns höchstens, wenn mal wieder eine Grundsatzdebatte zum Thema Kompetenzen oder Geld ansteht. Ansonsten sind sie für uns dunkle Namen, dann und wann mit einem Gesicht verbunden, aber gemeinhin bloße Begriffe, Subjekte, reduziert auf ihr Objektivstes, ihren Namen - objektiv hier, weil Buchstaben genauso wie Zahlen objektiv sind.

Bezug zum Themenanstoß und Fazit des ersten Standpunktes

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Dann ist es doch verständlich, dass dieser arme junge Mann, sich glücklich schätzen muss, dank modernster Technologie und hochentwickeltem Wissen, zu einem neuen Gesicht zu gelangen. Man könnte sich doch nicht vorstellen mit solch einer Person ohne definiertes Äußeres zu kommunizieren, wo soll man denn da hinschauen? Und wer spricht denn dann noch mit mir, wenn man uns zusammen sieht? Da mutet es doch direkt selbstlos an, dass er seinen Freunden und Verwandten und all den Menschen, die Umgang mit ihm pflegen, solch peinliche Situationen des in komischer Gesellschaft Auftretens erspart und stattdessen wieder ganz normal "dabei ist". Man zeigt sich je nach Situation gerne mit weniger hübschen Menschen, denn die eigene Schönheit ist immerhin maßgeblich gefördert durch ihre Einzigartigkeit und ihre Differenz zu anderen Anwesenden, aber mit einer Höllenfratze, die die Erbauer der ehrwürdigen europäischen Kathedralen stolz gemacht hätte, will man bloß nicht gesehen werden. Man kann sich ja nicht einmal über sie lustig machen in ihrem Beisein.

Unser Fazit müsste nun lauten, dass es eine gute, menschlich im Bezug auf sich selbst und auch auf andere nachvollziehbare und sogar zu unterstützende Entscheidung war, sich via Operation oder Transplantation ein neues Gesicht geben zu lassen. Wer würde nicht genauso handeln, bevor er wegen seiner Erscheinung ins zwischenmenschliche Abseits geraten würde?

Eröffnung zweiter Standpunkt

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Der zweite Standpunkt ist rein ideeller und moralischer Natur und findet deshalb, unter Berücksichtigung der modernen Welt und ihrer Charakterzüge, seinen Niederschlag in weit weniger Zeilen.

Das Gesicht ist, wie bereits zu Beginn genannt, der erste und auch wichtigste Punkt der Identifikation. Dieser ersten Identifikation folgen dann entweder, so die identifizierte Person unbekannt, das heißt in keinem persönlichen Verhältnis zum Betrachter, ist, weiterlaufende Assoziationen, die die Tätigkeit, die Präsenz oder das öffentlich präsentierte Wesen der Person umreißen, oder, so die identifizierte Person bekannt, das heißt in einer zwischenmenschlichen, privaten Beziehung mit dem Betrachter, ist, Assoziationen, die das bekannte Wesen hinter der visuellen Fassade erfassen.

Erste Vertiefung II

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Nun ist das Gesicht aber nicht nur Identifikationsmoment für andere Menschen, sondern auch für einen selbst. Ein sehr schönes Beispiel für die enorme Bedeutung dessen findet sich in Jean-Paul Sartres "Huis Clos". Dort ist es den sich in der "Hölle" befindlichen Personen nämlich gänzlich unmöglich, sich in irgendeiner Art und Weise selbst zu betrachten, was dazu führt, dass sie sich auf die Worte der anderen verlassen müssen. Die lädt selbstverständlich - man kennt uns Menschen ja - dazu ein, den anderen wissentlich zu erschrecken, um die Abhängigkeit desselben von einem selbst zu unterstreichen.

Man möge gerne den Selbstversuch machen und darauf verzichten, sich in irgendeiner Form in spiegelnden Oberflächen zu betrachten. So man denn nicht völlig enthemmt vom eigenen Erscheinungsbild ist, macht man sich permanent und immer selbstzweifelndere Gedanken. Dies unterstreicht die Wichtigkeit des Gesichts oder des allgemeinen Äußeren für die persönliche wie auch fremde Identifikation.

Engerer Bezug zum Hintergrund

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Dass man ein zerstörtes oder gar verlorenes Gesicht nicht durch eine gleichwertige, künstliche Komposition ersetzen kann, führt zu einem zwangsläufigen Identitätsverlust der betroffenen Person. Allerdings bildet sich durch die äußerlichen Merkmale nach dem Verlust eine neue Identität heraus, die gleichsam wie die im Zuge der Alterung vom Kind bis zum Manne - oder, wenn wir das Beispiel erweitern, bis zur Frau - aus sich selbst heraus entsteht. Wenn wie die Anzahl der Menschen auf der x-Achse und die der Gesichter auf der y-Achse auftragen und eine ganzrationale Funktion zeichnen, so wird jedem Menschen genau ein Gesicht zugeordnet.

Diese Zuordnung wird durch den Akt einer vollständigen oder nahezu vollständigen Gesichtstransplantation durchbrochen. Auf einmal haben wir zwei y-Werte für einen x-Wert. Der Mensch bekommt ein völlig neues Erscheinungsbild, der Identifikationsansatz als Ansatz der Einmaligkeit ist zerstört. Ein Mensch mit zwei Gesichtern, von dem eines noch nicht einmal ihm gehört.

Verschiedene Meinungen und Fazit II

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Wenn wir hier die Meinung von religiösen Menschen heranziehen, erhalten wir wohl die der in Sachen Klonen gegebene Antwort. Fragen wir einen Psychologen, so wird dieser wohl darauf hinweisen, dass das Elementare des Menschen physisch nicht fassbar ist. Fragen wir verschiedene andere Menschen, so werden Antworten, die Bezug auf die Nichtigkeit des Körpers in der Hinsicht auf den Tod, auf den freien Willen des Menschen und seine Entscheidungskraft, auf die Umstände, die wieder den Willen, sowie ein Einverständnis nach sich ziehen, auf die so bitter vernachlässigte Lobrede auf die moderne Technik und Entwicklung, und auf vieles anderes nehmen, gegeben werden.

Was die Mehrheit sagen wird, darf nur vermutet werden, allerdings ist angesichts der modernen Menschheit und ihrer Charakterzüge, die mal mehr, mal weniger deutlich hervortreten, die Behauptung, dass sie mehrheitlich einen solchen Eingriff befürworte, nicht gänzlich aus der Augsburger Puppenkiste entnommen. Die Frage, die sich aus dieser Meldung gibt, muss sich jeder selbst stellen und das Gebilde, das hinter dieser Aktion steht, muss jeder für sich selbst erschließen. Leiten lassen muss er sich aber von verschiedensten Aspekten, deren einige ich versucht habe darzulegen.
So bleibt mir nur noch auf Verständnis zu hoffen und zu formulieren, dass sich wohl derjenige glücklich schätzen solle, dem in einer solchen Situation die gleiche Offerte dargeboten wird.

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