Hoffnung in Preußischblau

Dieses Thema im Forum "Netzwelt" wurde erstellt von CeNedra, 21. Februar 2006 .

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  1. 21. Februar 2006
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 14. April 2017
    Im Kampf gegen Mobbing unter Kindern setzen nun auch staatliche Schulen auf einheitliche Kleidung - und erhalten Unterstützung aus der Politik.

    Das Schild soll zur Selbständigkeit ermuntern: "Liebe Eltern", steht an der Eingangspforte zur Max-Dortu-Grundschule in Potsdam, "ab hier können wir alleine gehen." Seit vergangener Woche hat auch die neunjährige Sophie Müller keine Bedenken mehr, den letzten Teil des Schulwegs ohne die schützende Hand ihrer Mutter zu gehen.

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    Für Sophie, ein freundliches Mädchen mit langen dunklen Haaren, war der Besuch der Klasse 4b bislang nicht nur mit der Vorfreude auf die Mitschüler verbunden. Allzu viele Gespräche, klagt sie, hätten sich um die Frage gedreht, wer die teuersten Turnschuhe, das richtige Logo auf dem Pullover und die coolste Jacke habe. "Das war gemein", sagt Sophie. Wer auf dem Laufsteg Schulhof nicht mithalten konnte, wurde schon mal höhnisch gefragt: "Wie siehst du denn aus?" Das Etikett "Aldi-Kind" besiegelte das Außenseiterleben.

    Jetzt steht das Mädchen mitten auf dem Schulhof und sieht Rot. Oder Blau. Als erste staatliche Grundschule in Brandenburg haben die Potsdamer einheitliche Schulkleidung eingeführt. "Das sind keine Uniformen", erklärt - auf einen feinen Unterschied bedacht - die Leiterin Gudrun Wurzler, 53, sondern "sportliche Alltagsklamotten".

    Ein Jahr lang hatten Lehrer, Eltern und Schüler über Sinn und Unsinn eines Einheitslooks diskutiert. Sie hatten Sponsoren gesucht, um die Kosten im Rahmen zu halten. Schüler studierten Schnitte für die Kleidung und wählten die Farben selbst aus. Am Ende entschied eine klare Mehrheit für das neue Outfit.

    Für Erstklässler ist die Schulkleidung zum Preis von rund 30 Euro seit Anfang Februar nun verbindlich. Die Pennäler der höheren Klassen greifen morgens freiwillig zu Polo-Shirt, T-Shirt oder Basecap in den Farben Rot und Preußischblau - verziert mit einem Emblem aus Fußball und Notenschlüssel, dem Logo der Schule.

    Das Echo ist furios: "Richtig cool, sogar mit Tasche für den MP3-Player", fachsimpelt Maximilian Knoff, 11, über seine neue Allwetterjacke. "80 Prozent der Schüler machen mit - freiwillig", freut sich derweil seine Schulleiterin, die jetzt auch die rote Jacke trägt. "Die sozialen Unterschiede", glaubt Wurzler, "werden verwischen. Das Zugehörigkeitsgefühl an der Schule wollen wir stärken."

    Die Potsdamer Rektorin ist nicht die einzige Pädagogin, die solche Hoffnungen hegt. Die Furcht vor dem "Abziehen" teurer Jacken und Shirts, der ausufernde Kult um Markenkleidung und die Sorge um den sozialen Zusammenhalt in den Schulen lässt immer mehr Lehrer und Eltern auf ein neues Motto setzen - Kleider machen Schule. In Bayern, Hessen, Brandenburg, Baden-Württemberg und Hamburg wird inzwischen mit dem Einheitslook experimentiert.

    "Eine kleine Bewegung von unten", hat Ute Erdsiek-Rave, Präsidentin der Kultusministerkonferenz, ausgemacht, die sie nur begrüßen könne. Die Politik, so die SPD-Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein sollte "Schulen unterstützen, die das gern wollen". Freiwilligkeit vorausgesetzt, springt auch die Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, Ulla Burchardt (SPD), bei, "kann Schulkleidung die Identifikation mit der Schule fördern, das Wir-Gefühl stärken und Markenterror einschränken".

    Lange Zeit waren es nur Privatschulen, die auf die Einheitskluft setzten - der Ruf nach der Schuluniform klang allzu sehr nach Drill und Elite. Kritiker wie der Bundesarbeitskreis "Schüler gestalten Schule" wehren sich gegen den Einheitsdress - er fürchtet um das Selbstbestimmungsrecht. Zudem wecken Schuluniformen Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit: Erst hatten die Nazis die Hitler-Jugend braun uniformiert, später war es die SED-Jugendorganisation FDJ, die einheitliche Blusen - das Blauhemd - verordnet hatte.

    "Der Totalitarismus-Verdacht", glaubt die Hamburger Lehrerin Karin Brose, sei bis heute "ein klassischer deutscher Reflex". Selbst wenn traditionelle Uniform-Länder wie Großbritannien und Kanada auf ihre demokratische Kultur verweisen können. Brose ist so etwas wie die Mutter der Textil-Bewegung an den staatlichen Schulen. Nach sechs Jahren Erfahrung mit dem Einheitsdress an der Haupt- und Realschule Sinstorf im Hamburger Süden fällt ihr Fazit euphorisch aus: "Schüler, die eine einheitliche Kleidung tragen, lernen besser, sind rücksichtsvoller und können sich besser konzentrieren."

    Bestätigt sieht sie sich durch die Studie des Psychologie-Professors Oliver Dickhäuser, der die blaugekleideten Sinstorf-Schüler mit anderen Hamburger Pennälern verglich, die keine Schulkleidung tragen. Das Ergebnis hat ihn überrascht: "In Klassen, in denen die Schüler bereits seit zwei oder drei Jahren die Schulkleidung tragen, herrscht ein besseres Sozialklima, eine höhere Aufmerksamkeit - und sie fühlen sich sicherer." Auch durch eine amerikanische Studie sehen sich die Einheitsfans bestätigt. Im kalifornischen Long Beach District wurden im Schuljahr 1994/1995 für 60.000 Schüler Uniformen eingeführt. Eine Untersuchung belegt, dass es dort seitdem deutlich weniger Gewalt unter Schülern oder Suspendierungen vom Unterricht gab.

    Solche Erfolgsgeschichten machen im von Negativ-Schlagzeilen geprägten deutschen Schulwesen rasch die Runde. Mittlerweile berät die Pädagogin Brose aus Hamburg zahlreiche interessierte Kollegen - "von Bayern bis Schleswig-Holstein", wie sie stolz berichtet. Auch unter Politikern hat sich die Geschichte ihrer Schule herumgesprochen. In Hamburg hat die regierende CDU für das kommende Schuljahr bereits beschlossen, "die Einführung von einheitlicher Kleidung politisch voranzutreiben".

    Unter Lehrern ist derweil Broses Leitfaden "Schulkleidung ist nicht gleich Schuluniform" zum Bestseller geworden. Denn der Trend zur Einheitskluft stellt Lehrer vor gänzlich neue Herausforderungen. "Man wird nebenbei fast zu einem Textil-Experten", sagt Dieter Landthaler, 63, Leiter der Staatlichen Realschule Haag in Oberbayern. Ob Stoffe, Farben, Produktionskosten oder Vertrieb: "Wir haben alles selbst organisiert - mit den Schülern zusammen." Seit September 2005 tragen rund 80 Prozent der 700 Haager Schüler ihre hellblauen Dresse, auch Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), bekennender Träger von Gebirgsschützentrachten, gratulierte zu "einem so mutigen Schritt".

    Die bayrischen Schüler wissen nun bestens Bescheid über die Ausbeutung von Textilarbeitern in Entwicklungsländern und die Marketingtricks von Modelabels. "Denen macht keiner mehr was vor", sagt der Schulleiter und betont, dass die Idee von den Schülern selbst gekommen sei, vor allem von jenen Mädchen, "die keine Lust mehr auf Tussi-Konkurrenz durch Dekolletés und bauchfreie Shirts hatten".

    Landthalers Schülerin Vanessa Hohle sieht das jedoch eher pragmatisch: "Ich muss mich morgens nicht mehr ewig fragen: Was ziehe ich bloß an?"
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