Die vergessenen Sklaven

Dieses Thema im Forum "Politik, Umwelt, Gesellschaft" wurde erstellt von Shnuppl, 19. Juni 2009 .

  1. 19. Juni 2009
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 14. April 2017
    Bin da auf eine höchst interessante und informative Doku über Sklaverei gestoßen.
    (Inhaltsangabe siehe unten)
    Bin mir nicht so sicher, ob sich hier überhaupt jemand dafür interessiert... mal sehen.


    Sklaven für den Orient
    Dokumentation von Antoine Vitkine
    ARTE France, Frankreich 2008, 45 Min.

    Jeder weiß Bescheid über den von den Europäern organisierten Sklavenhandel
    von Afrika nach Amerika und über die elf Millionen Afrikaner, die unter schlimmsten Bedingungen
    wie Vieh auf Sklavenschiffen verfrachtet wurden. Dieser Menschenhandel ist heute Gegenstand
    einer aktiven Vergangenheitsbewältigung. Weniger bekannt ist jedoch der Verkauf von Sklaven
    aus Schwarzafrika in den Orient und in die arabisch-muslimische Welt. Schätzungen zufolge
    wurden im Laufe von 14 Jahrhunderten insgesamt 17 Millionen Afrikaner als Sklaven in
    muslimische Länder verkauft.
    Außerdem befasst sich die Dokumentation mit dem der Öffentlichkeit noch weniger bekannten
    innerafrikanischen Menschenhandel, den afrikanische Königreiche Jahrhunderte lang betrieben -
    lange bevor die Europäer die afrikanischen Küsten für sich entdeckten. Ferner veranschaulicht
    die Dokumentation durch bisher unveröffentlichte Fotos, dass der Sklavenhandel in der
    muslimischen Welt und Schwarzafrika bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weiterblühte.
    Wie wurden die Sklaven gefangen genommen? Welche Arbeiten mussten sie verrichten? Diese
    und andere Fragen beantworten die Experten Salah Trabelsi, Ibrahima Thioub, Henri Medard und
    Mohamed Ennaji. Die arabischen und afrikanischen Historiker erläutern, warum die Geschichte
    des Sklavenhandels in der afrikanischen und muslimischen wie in der westlichen Welt ein heikles
    Thema ist und bleibt. Dahinter stehen diverse Ängste: Angst davor, den Sklavenhandel nach
    Amerika zu banalisieren, Rachegedanken zu schüren und des Rassismus oder der Kolonisierung
    beschuldigt zu werden - alles Gründe, die einer Vergangenheitsbewältigung heute noch im
    Wege stehen.


    Menschenhandel - Ein weltweites Verbrechen | Freedom | Welt | de - ARTE




    weiter:
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    Wer keine Lust hat, 45 Minuten Youtube zu schauen, aber sich dennoch für das Thema
    interessiert, der kann alternativ auch lesen.


    Siebzehn Millionen Tote
    Nicht nur Darfur: Ein französisches Buch zeigt, wie der muslimische Sklavenhandel Afrika ruinierte...

    Ulrich Baron für Die Welt

    Spoiler
    Siebzehn Millionen Tote
    Von Ulrich Baron 16. Juli 2008, 04:00 Uhr

    Nicht nur Darfur: Ein französisches Buch zeigt, wie der muslimische Sklavenhandel Afrika
    ruinierte


    Während der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Luis
    Moreno-Ocampo, erwägt, einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar Hassan
    al-Baschir Al-Baschir wegen Völkermord zu beantragen, sorgt in Frankreich ein Buch Tidiane
    N'Diayes für Aufsehen. Wird die sudanesische Regierung beschuldigt, arabische Milizen zu
    unterstützen, durch deren Terror in Darfur nach UN-Schätzungen in den vergangenen fünf
    Jahren 300 000 Schwarzafrikaner ums Leben gekommen sind, so rechnet der profunde Kenner
    der schwarzafrikanischen Geschichte unter dem Titel "Der verschleierte Völkermord" ("Le
    génocide voilé", Gallimard, 21,50 Euro) mit dem Sklavenhandel unter muslimischer Herrschaft ab.
    Seit dem 7. Jahrhundert seien dem rund 17 Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Und
    während der europäische Sklavenhandel sich auf die 130 Jahre zwischen 1660 und 1790
    konzentrierte, habe der arabisch-muslimische eine über 13 Jahrhunderte währende und bis nach
    Darfur fortwirkende Tradition.

    Erschüttert zitiert man in Frankreich Augenzeugenberichte, nach denen im 19. Jahrhundert ein
    arabischer Bewohner der Stadt Oujiji auf die Frage eines Europäers, warum in deren Nähe so
    viele verwesende Leichen herumlägen, seelenruhig geantwortet habe: Normalerweise werfe
    man seine toten Sklaven an den Stadtrand, wo sie über Nacht von den Hyänen gefressen
    würden. Doch in diesem Jahr habe es so viele Tote gegeben, dass die Aasfresser wohl etwas in
    Verzug gekommen seien.

    Die aktuelle Wirkung solcher Berichte, ergibt sich freilich daraus, dass sie schockartig etwas von
    rituellen europäischen Selbstanklagen Verdrängtes enthüllen, das doch seit Jahrhunderten Teil
    jenes Bildes war, das man sich im Abendland von der morgenländischen Grausamkeit machte.
    Ihren Niederschlag fand dies seinerzeit auch in der Populärkultur. Ab 1889 konnte man in Karl
    Mays Roman "Die Sklavenkarawane" nachlesen, was N'Diaye heute akzentuiert: Dass der
    Sklavenhandel in Afrika unter muslimischer Herrschaft auch Ende des 19. Jahrhunderts längst
    nicht zu Ende war.

    Zudem hatten die Europäer eigene Erfahrungen mit muslimischen Sklavenhändlern gemacht. Im
    Zuge des großen Kosaken- und Bauernaufstand in der Ukraine, der 1648, im Jahr des
    Westfälischen Friedens, losbrach, verschleppten die Krimtartaren, Hunderttausende von
    Menschen zu den Sklavenmärkten der Krim und Istanbuls. Die Osmanen füllten durch die
    berüchtigte Knabenlese (Devschirme) die Reihen ihrer Janitscharen mit christlichen
    Kriegssklaven. Und den europäischen Seefahrern im Mittelmeer drohte eine Verschleppung auf
    die Sklavenmärkte Nordafrikas. Prominentestes Opfer war Robinson Crusoe, der seinem
    muslimischen Herren nicht, wie üblich, durch Freikauf, sondern durch Flucht entkam. In einem
    seltenen Akt afro-europäischer Solidarität verschwand er zusammen mit dem schwarzen
    Sklavenjungen Xury in einer Schaluppe. Lange währte diese Gemeinschaft aber nicht, denn als
    unsentimentaler britischer Händler verkaufte Mr. Crusoe das Boot mitsamt seinem
    Reisegefährten bei nächster Gelegenheit an einen Vertreter der christlichen Seefahrt. Wegen
    seiner besonderen Aufgewecktheit brachte ihm der Knabe satte 60 Dukaten ein, also so viel wie
    ein Löwen- und ein Leopardenfell zusammen.

    Diese Nebenhandlung des "Robinson Crusoe" ist symptomatisch für eine europäische Bigotterie,
    die sich nicht nur im transatlantischen Sklavenhandel bewährte, bei dem man auf afrikanische
    und muslimische Händler und Potentaten angewiesen war. Freilich sorgt Robinson immerhin
    dafür, dass Xury nach zehn Jahren freigelassen werden kann, sofern er zum Christentum
    übertritt.

    N'Diaye betont, dass auch der muslimische Sklavenhandel nicht ohne Beteiligung afrikanischer
    Machthaber möglich gewesen wäre. Doch ließen sich den Schreckensbildern durch Sklavenjagden
    entvölkerter oder mit Leichen übersäter Landstriche ähnliche Bilder aus Belgisch-Kongo zur Seite
    stellen, die Joseph Conrad zu seinem Roman "Herz der Finsternis" inspirierten.

    Auch wenn Afrika am meisten unter der Sklaverei zu leiden hatte, kann also weder einer Täter-
    noch einer Opferrolle hier absolute Exklusivität zugesprochen werden. Auch wäre es falsch, die
    Schuld am Elend Afrikas jetzt zwischen der christlichen und islamischen Welt hin und her zu
    schieben oder gar brüderlich zu teilen.

    Nicht zuletzt die Fortsetzung des Sklavenhandels, dessen Ausläufer sich noch im Darfur-Konflikt
    ablesen lassen, hat die muslimische Welt gegenüber dem Westen ins Hintertreffen geführt. Es
    gab in ihr keine Französische, aber auch keine Industrielle Revolution, sondern eine Fortsetzung
    feudaler, autokratischer und despotischer Systeme, denen die Menschenrechte ebenso Hekuba
    waren wie die Potenziale eines freien Arbeitsmarktes.

    Die zynische Grausamkeit, mit der man tote Sklaven von Hyänen beseitigen ließ, entsprach der
    ökonomischen Erfahrung, dass Sklavenarbeit in einer stagnierenden Wirtschaft kaum deren
    Unterhaltskosten deckt. Schon im alten Rom hatte man dagegen erkannt, dass die effizienteste
    Form der Sklavenarbeit jene war, an deren Ende der Freikauf und das römische Bürgerrecht
    winkte. Hinter dem klassischen Bild des orientalischen Sklaven aber, des Haremswächters, stand
    ein unproduktives despotisches System, das solchen Luxus nicht erwirtschaftete, sondern ihn
    seinen Steuerzahlern und tributpflichtigen Nachbarn abpresste. Statt eines Ausstieges winkte
    allenfalls ein Aufstieg innerhalb des Apparates, der die Sklaverei betrieb. Arbeits- und
    Militärsklaven und auch mächtige Hofeunuchen waren deshalb zugleich Opfer und Stützen
    parasitärer Systeme, die die Herrschaft über Menschen weit besser zu organisieren imstande
    waren als deren produktive Arbeit. Dies führte dazu, dass die Massen im Lande arm blieben und
    wiederum nur mittels jener Militärkaste im Zaun gehalten werden konnten, die sich damit zum
    Staat im Staate entwickelte. Sklaverei ist nicht nur grausam und macht grausam, sie macht auch
    arm und hält arm. Und daran ist ausnahmsweise nicht der Westen schuld.


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    Quasi zur thematischen Abrundung noch ein anderes Thema, das in der Arte-Doku kurz erwähnt
    wird, aber generell bei uns so gut wie unbekannt ist:
    >>> die Versklavung von Europäern durch Nordafrikaner.
    Miguel de Cervantes, der Autor des "Don Quijote", wurde als Sklave nach Algier
    verschleppt und ist vielleicht das bekannteste Opfer.


    See der Angst
    Jahrhundertelang machten muslimische Sklavenjäger im Mittelmeer Jagd auf Christen. Über eine Million Opfer, hat jetzt ein US-Historiker enthüllt, landeten auf den Märkten Nordafrikas...

    DER SPIEGEL 19/2004 vom 03.05.2004, Seite 216

    Spoiler
    Autor: Günther Stockinger
    GESCHICHTE

    See der Angst

    Jahrhundertelang machten muslimische Sklavenjäger im Mittelmeer Jagd auf Christen. Über
    eine Million Opfer, hat jetzt ein US-Historiker enthüllt, landeten auf den Märkten Nordafrikas.


    Im Schutz der Dunkelheit pirschten sich die Jäger lautlos heran. Unter Schlägen wurden die
    Bewohner der Siedlungen zusammengetrieben und an Bord der vor der Küste wartenden Schiffe
    gebracht.

    Meist war der Spuk so schnell zu Ende, wie er begonnen hatte. Unter Deck kauerten die
    Gefangenen wimmernd in dunklen Verschlägen; an Land bellten, nachdem die Schreie der
    Überrumpelten verstummt waren, nur noch die Hunde.

    Von 1500 nach Christus bis weit ins 18. Jahrhundert war das Mittelmeer für die christlichen
    Anrainerstaaten eine See der Angst. Muslimische Sklavenjäger von der nordafrikanischen Küste
    durchpflügten auf der Suche nach Christenbeute das Meer. Die Bewohner küstennaher
    Siedlungen Italiens, Frankreichs und Spaniens endeten zu Tausenden in der Gefangenschaft.

    Bauern und Landarbeiter verschwanden von ihren Feldern. Fischern wurde das Auswerfen der
    Netze zum Verhängnis. Auf vielen Mittelmeerinseln prägte der bange Blick zum Horizont
    jahrhundertelang das Leben der Bewohner.

    Selbst an vielen Gestaden des Atlantiks war es mit der Sicherheit vorbei. Die nordafrikanischen
    Korsaren trieben ihr Unwesen vor Portugal, an der Kanalküste und in der Irischen See. 1627
    verschleppten die Sklavenjäger sogar 400 Isländer, die sich in ihrer kalten Heimat weitab von
    jeder Gefahr gewähnt hatten.

    Die Historiker haben sich mit den Dimensionen des mediterranen Sklavenhandels bisher kaum
    beschäftigt. Verlässliche Opferzahlen fehlten. Das düstere Kapitel der Mittelmeergeschichte
    geriet in Vergessenheit, weil durch die europäische Großmacht- und Kolonialpolitik des 19. und
    20. Jahrhunderts aus den ehemaligen Opfern Täter geworden waren.

    Schätzungen über die Zahl der in Gefangenschaft Geratenen fielen deshalb eher zurückhaltend
    aus: Insgesamt nur ein paar tausend Menschen, so vermuteten die Experten, seien den
    muslimischen Sklavenhändlern in die Hände gefallen.

    Erst jetzt hat ein US-Historiker das Ausmaß der Menschenjagd im Mittelmeer gründlich erforscht.
    "Vieles von dem, was bisher geschrieben wurde, vermittelt den Eindruck, als wäre das Problem
    für Europa nicht bedeutend gewesen", erklärt Robert Davis von der Ohio State University**:
    "Doch das ist ein Irrtum."

    Davis sichtete Quellen, die den Menschenhandel in den Korsarenhochburgen Algier, Tunis und
    Tripolis dokumentieren. Er ermittelte die Zahl der in den muslimischen Mittelmeerhäfen jährlich
    durch Tod, Flucht oder Lösegeldzahlungen ausfallenden Zwangsarbeiter, die durch neue
    Menschenware ersetzt werden mussten, und errechnete auf dieser Grundlage die Zahl der
    Gesamtopfer.

    Sein überraschendes Ergebnis: Zwischen 1530 und 1780 landeten "fast sicher eine Million und
    ziemlich wahrscheinlich bis zu 1,25 Millionen" weiße christliche Gefangene auf den
    Sklavenmärkten Nordafrikas - kahl geschoren und in Eisen geschmiedet.

    Allein zwischen 1530 und 1580 erbeuteten die Korsaren von Algier 300 000 europäische
    Sklaven. Davis: "Wir haben das Gefühl dafür verloren, wie groß die Bedrohung für diejenigen
    war, die um das Mittelmeer herum lebten." In den Sklavenhändler-Metropolen entwickelte sich
    die Christenjagd in dieser Zeit zu einer wahren Industrie. Nach groß angelegten Fangaktionen
    mit Dutzenden von Galeeren und Tausenden von Bewaffneten "regnete es Christen in Algier",
    wie Zeitgenossen notierten. Erfolgreiche Korsarenka-pitäne führten ihre mit Stricken aneinander
    gebundene Beute in einer Art Triumphzug durch die Stadt.

    Die meisten der Opfer waren Männer. Doch nach erfolgreichen Überfällen auf Städte und Dörfer
    überschwemmten auch weibliche Gefangene und Kinder die Sklavenmärkte.

    Ab Mitte des 17. Jahrhunderts, als die mediterranen Küsten besser bewacht wurden, änderten
    die muslimischen Menschenjäger ihre Taktik. Statt groß angelegter Überfälle verlegten sie sich
    auf Nadelstiche - gepaart mit List und Tücke: Sie erkundeten Küstenabschnitte mit erbeuteten
    Fischerbooten oder näherten sich dem Festland mit falschen Abzeichen und Flaggen. Um
    Warnrufe zu verhindern, wurden die christlichen Ruderer an Bord der Freibeutergaleeren mit
    einem Stück Kork geknebelt, das sie ständig wie ein Reliquiensäckchen um den Hals tragen
    mussten.

    Auch auf hoher See waren die muslimischen Piraten Meister der Hinterlist: Sie schickten
    europäisch gekleidete Konvertiten als Lockvögel über Deck, takelten erbeutete Christenschiffe
    für die Sklavenjagd um und tauchten auch außerhalb jener Jahreszeiten auf, die als Hochsaison
    der Sklavenfänger galten. "Der Beute aufzulauern - hinter einer Insel oder einem
    Felsenvorsprung, in einer Nebelbank oder im ersten Tageslicht - war eine Lieblingstaktik der
    Korsaren", berichtet Davis.

    Frankreich und Spanien verloren durch die Kaperfahrten Tausende von Schiffen. Die mächtige
    Royal Navy musste allein zwischen 1606 und 1609 den Verlust von 466 englischen und
    schottischen Seefahrzeugen einräumen. Auch die hochgerüsteten Galeeren der Malteser Ritter
    waren vor den Verwegensten unter den Hochseejägern nicht sicher.

    Für die Korsarenkapitäne in Algier oder Tunis war es nicht schwer, Besatzungen für ihre
    Raubzüge zu rekrutieren: Statt mit Heuer lockten sie die Mannschaften mit einem Anteil an der
    Beute. Selbst die Rudersklaven waren, wenn auch in äußerst bescheidenem Maße, am Gewinn
    der Unternehmen beteiligt - in manchen Fällen reichte die Summe für die Opfer nach jahrelanger
    Quälerei, um sich aus der Gefangenschaft freizukaufen.

    Auf die im Bauch der Schiffe eingepferchten Gefangenen wartete in den Korsarenhäfen ein
    ungewisses Schicksal. Wohlsituierte unter den Passagieren, die reiches Lösegeld versprachen,
    wurden von Spekulanten ersteigert, die ihr Geld wie moderne Aktienkäufer in viel versprechende
    Titel investierten. Die restlichen Gefangenen endeten als Arbeitskräfte in privaten Haushalten
    oder mussten als öffentliche Sklaven beim Straßenbau, in der Landwirtschaft oder in Salzminen
    schuften.

    Unweit von Algier etwa, so fand der US-Forscher heraus, schleppten Hunderte christlicher
    Sklaven 20 bis 40 Tonnen schwere Steinblöcke auf Schlitten aus Steinbrüchen in die zwei Meilen
    entfernte Stadt, um damit dort Molen zu befestigen oder Verteidigungsanlagen zu erneuern.
    Auch das Holz für den Bau neuer Piratenschiffe musste im Umland geschlagen und zu den
    Werften transportiert werden. Die körperliche Schwerstarbeit dauerte von Sonnenaufgang bis
    kurz vor Sonnenuntergang: Das Los der meisten Christensklaven, so Davis, sei ebenso hart
    gewesen wie später das ihrer schwarzen Leidensgenossen in Amerika.

    Die Unglücklichsten unter den Opfern fanden sich auf den Ruderbänken der Freibeutergaleeren
    wieder. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, waren sie den Schlägen der Aufseher und der
    Hitze schutzlos preisgegeben. Vielen der schwimmenden Gefängnisse eilte ein bestialischer
    Gestank voraus, weil die an Händen und Füßen angeketteten Gefangenen ihre Notdurft bei
    Verfolgungsjagden an Ort und Stelle verrichten mussten. Wegen des Schlafentzugs bei den oft
    wochenlangen Raubfahrten befanden sich die Ruderer fast ständig am Rande des Deliriums.

    Manche der gefangenen Christen konvertierten zum Islam, um dadurch ihr Schicksal zu
    erleichtern. Die so genannten Renegaten mussten nicht mehr auf die Galeeren oder in die
    Steinbrüche; dennoch blieben auch sie danach noch Sklaven. Am besten trafen es in
    Gefangenschaft geratene Schiffszimmerleute - vor allem ab dem 17. Jahrhundert, als die
    Sklavenjäger technische Neuerungen der christlichen Werften kopieren mussten, um mit den
    Schiffen ihrer Gegner weiter mithalten zu können.

    Die Mortalitätsrate der Christensklaven in den nordafrikanischen Häfen betrug jährlich
    annähernd 20 Prozent; bei Frauen, Kindern und Alten lag sie nach Schätzungen von Davis sogar
    noch höher. Wer nicht wegen der schlechten Ernährung oder der harten Arbeit starb, fiel nicht
    selten den wiederholt über die Sklavenhäfen hereinbrechenden Pestepidemien zum Opfer. Von
    den 400 nach Algier verschleppten Isländern beispielsweise lebten nach achtjähriger
    Gefangenschaft noch gut fünf Dutzend.

    Erst im 18. Jahrhundert wurden die Bemühungen der europäischen Staaten und christlicher
    Orden erfolgreicher, Sklaven aus den Arbeitslagern der Muslime freizukaufen. Bis dahin, so der
    US-Forscher, war "die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass die Opfer in der Gefangenschaft
    umkamen, als dass sie in die Heimat entlassen wurden".

    In den nordafrikanischen Städten hat der jahrhundertelange Menschenhandel nur wenig Spuren
    hinterlassen. Von den Sklavenmärkten und Gefangenenlagern existieren, außer in Marokko,
    keine Überreste mehr. So gut wie nichts erinnert an die Hunderttausenden von Europäern, die in
    den einstigen Freibeutermetropolen ihr Leben fristeten und nach dem Tod auf Friedhöfen
    außerhalb der Stadt in anonymen Gräbern verscharrt wurden.

    Nur eine Hinterlassenschaft der Opfer blieb erhalten: Schon im 18. Jahrhundert wunderten sich
    Reisende, die nach Algier kamen, über die helle Hautfarbe vieler Stadtbewohner.

    Generationen weißhäutiger Christensklavinnen hatten ihren muslimischen Besitzern über
    Jahrhunderte hinweg Kinder zur Welt gebracht; und Tausende von konvertierten Gefangenen
    hatten mit einheimischen Frauen Nachkommen gezeugt.

    Beides zusammen, so Davis, habe "eine Menge europäisches Blut in den lokalen Genpool
    gespült".


    GÜNTHER STOCKINGER
    216 * Gemälde von Paul-Louis Bouchard, 1893. ** Robert Davis: "Christian Slaves, Muslim
    Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast, and Italy, 1500-1800".
    Palgrave Macmillan, Basingstoke; 248 Seiten; 50 Pfund.

    Bild
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    Ganz schön viel und harter Stoff. Aber falls jemand noch weiterführende Links oder lesenswerte
    Bücher zu dem Thema kennt; seine Meinung oder sein Wissen teilen will: bitte einfach posten.


    PS: wusste jetzt nicht genau wohin damit, gegebenenfalls bitte verschieben
     
  2. 19. Juni 2009
    AW: Die vergessenen Sklaven

    harte sache.
    wusste ich auch noch nicht. und in der schule noch nie ein wort darüber gehört.

    eine historische frage:
    kam die europäische kolonialszeit quasi dann als reaktion darauf oder hat da jemand ein wenig mehr hintergrundwissen wie es am ende weiterging, so gegen 1800+
     
  3. 19. Juni 2009
    AW: Die vergessenen Sklaven


    die hautpsächliche kolonialisierung war eher im 15-17 jahruhundert.manch blieben bis ins 1900 erhalten.
    was meisnt du mit 1800+?zu diese rzeit waren die kolonien schon kolniealisiert,sie wurden nur gehalten.
     
  4. 19. Juni 2009
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Afrika nicht. Afrika wurde erst im 19. Jahrhunder kolonialisiert. Vorher gab es nur vereinzelt Stützpunkte, um den Seeweg nach Indien zu sichern.
    Ob die Kolonialisierung eine Folge von der Sklaverei ist bezweifle ich mal sehr stark. Ich denke eher, GB und Frankreich haben sich nach neuen Ländern umgeschaut, da Amerika ja quasi verloren war. Und die anderen Staaten haben diesen Wettlauf mitgemacht weil jeder etwas haben wollte. Wobei das eigentlich auch keine Kolonialisierung war sondern Imperialismus.

    Zum Thema: Hab jetzt nur den einen Text gelesen. Guck mir nachher das Video mal an. Finds halt interessant. Wir sind in solchen Sachen einfach zu Europazentriert, wenn es um Geschichte geht. Sklaverei gab es halt überall, nicht nur von Europäern aus.
     
  5. 4. Juli 2009
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Ja, da hast du wahrscheinlich recht.

    Allerdings kann man das nicht als Ausrede gelten lassen, finde ich.
    Hier geht's ja nicht um irgend einen kleinen Kleks in der Geschichte,
    sondern um eines der abscheulichsten Kapitel der Menschheit - teilweise bis heute aktuell.
    Da finde ich es nicht ausreichend, dieses Thema so stiefmütterlich zu vernachlässigen.
     
  6. 5. Juli 2009
    AW: Die vergessenen Sklaven

    wow das höre ich auch zum ersten mal.
    das ist auf jeden fall eine sehr üble sache.
    Aber schon komisch das man davon nix gehört hatt.
    Ist ja nicht so als wäre das ne kleine sache.
    Solche menschen tuen einem einfach nur leid.
     
  7. 17. Februar 2010
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 14. April 2017
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Kleines Update:
    das oben erwähnte Buch von Tidiane N'Diaye erscheint im März auch auf Deutsch.


    Bild

    Klappentext: "Der verschleierte Völkermord" schildert die Versklavung der schwarzen Bewohner Afrikas durch die muslimischen Eroberer. Im Jahre 652 zwang der Emir Abdallah ben Said dem nubischen König Khalidurat einen Schutzgeld-Vertrag auf: Nubien sollte in Zukunft unter dem Schutz Allahs und seines Propheten Mohammed stehen, sofern es jedes Jahr 360 Sklaven beiderlei Geschlechts an den Imam der Muselmanen überstellte. Im Laufe der folgenden dreizehn Jahrhunderte drangen islamische Sklavenhändler immer tiefer in den Kontinent ein und verschleppten viele Millionen Schwarze in die arabischen Länder. Der Autor beschreibt den unglaublichen Blutzoll, den dieser menschenverachtende Handel forderte. Auf jeden gefangenen Sklaven kamen durchschnittlich drei Menschen, die beim Niederbrennen der Dörfer oder in den darauf folgenden Hungersnöten umkamen. Und auf den Todesmärschen starb in der Regel noch einmal mehr als die Hälfte aller Sklaven. Der Autor schätzt die Zahl der Toten, die auf das Konto des arabischen Sklavenhandels gingen, auf mindestens 17 Millionen. Ein erschütterndes Buch über einen bisher kaum thematisierten Völkermord. Im Vorwort schreibt N'Diaye: "Der Horror in Darfur währt mittlerweile seit dem 7. Jahrhundert - bis hinein ins 21. Jahrhundert, mit dem Unterschied, dass es nun auch eine ethnische Säuberung gibt."


    Eine -> Leseprobe <- ist vorhanden.
     
  8. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Der Grund ist, dass die Leute, die auf Lehramt studieren - sprich unsere Lehrer selbst wenig Ahnung davon haben. So wird dieser Unterrichtsteil gerne übersprungen.
    Wenn ich so darüber nachdenke, was wir im Geschichtsunterricht gemacht haben....2. Weltkrieg!!!
    5.Klasse - 1939
    6.Klasse - 1940
    7.Klasse - 1941
    8.Klasse - 1942
    9.Klasse - 1943
    10.Klasse - 1944
    11.Klasse - 1945
    12. + 13. Klasse - kein Geschichte!

    Wir haben wirklich nichts anderes gemacht!
    Ich fragte mal nach dem 1. Weltkrieg, ob wir den mal durchnehmen könnten...NEE, das ist kein Unterrichtsstoff!!!
    So mussten wir uns alles andere, was vorher war, selbst irgendwo hersuchen. Und dieses Thema kannte ich auch, da es mich interessierte.
     
  9. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Dann habt ihr echt nen komischen Lehrplan: In der 5. haben wir bronzezeit durchgenommen.
    6. Griechen (Demokratie)
    7. Römer
    8. Mittelalter/Glorious Revolution in Britain
    9. Spät Mittelalter
    10. Nazi zeit.
    11. 19. jahrhundert
    12. 20. Jahrhundert
    13. 20 Jahrhunder (Kalter krieg, Wiedervereinigung etc)
    13. Grichenland-->First Democracy in Athen
     
  10. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Wir haben auch nix anderes gemacht. Vielleicht noch ein bißchen französische Revolution. Ansonst wirklich nur Weimarer Republik bis Holocaust.
     
  11. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Hört sich krass an, werd ich mir morgen mal angucken. Zu spät für heute.
     
  12. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Wenn ich daran denke, was einige Europaländer für Geschichtslernstoff haben, dann würd ich erst recht nur mal auf Europa einen Fokus setzen.
     
  13. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    klingt vielleicht hart..aber an sich interessiert es doch kein schwanz. niemand interessiert sich für sowas, man hört mal kurz ein bisschen geheuchle hier, ein bisschen geheuchle da aber im endeffekt alles nur heiße luft. wenn ihr wirklich mal kritisch überlegt, solltet ihr mir recht geben. ist doch genauso wie mit der 3. welt. alle menschen heucheln, keinen interessierts. man fühlt sich gut wenn man mal 5€ an irgendne organistaion spendet aber das wars dann.
     
  14. 17. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    @ mr. knut

    mag sein, dass es leider zuviele solcher leute gibt, aber man sollte nicht immer von sich auf den rest der menschen schliessen. es gibt zum glück zich verschiedene typen von menschen und vielen geht es primär nich nur um ihr eigenes wohlbefinden oder kurz: das schicksal anderer interessiert sehr wohl ! nur weil die eigene realität kein anderes weltbild zulassen will oder kann, heisst es nicht, dass es woanders nicht total umgekehrt laufen kann.
    wenn sich der horizont öffnet, öffnet sich auch das gefühl auf hoffnung...nicht ohne grund. die eigenen vier wände/ die heimatstadt / das land / die gesellschaft in der man aufgewachsen ist, ist nicht alles was in der welt passiert, auch wenn es ganz klar vielen oft so scheint..

    emphatie liebe leude, ein bisschen mehr emphatie !
     
  15. 18. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    Sehr richtig! Hier pauschal Desinteresse oder gar Heuchelei von Interesse zu unterstellen, halte ich für unsinnig.
    Natürlich wird es den ein oder anderen poster geben, der schreiben wird: "Is ja voll krass ey..." und am nächsten Tag nichtmal mehr etwas davon weiß. Aber die Menschen sind nunmal verschieden, und der eine fühlt sich mehr angesprochen als der andere.
    Zudem denke ich, dass je mehr Präsenz einem Thema zukommt, es desto eher die Gedanken in den Köpfen Aller anregen wird.
    Ich für meinen Teil war ebenfalls überrascht, insbesondere über die Ausmaße des Sklavenhandels von Afrika in den Orient. Gehört hatte ich davon allerdings schonmal.

    Fazit: Es zeigt sich, dass im kollektiven Geschichts- und Aufarbeitungsbewusstsein des Menschen ein wichtiger Tatbestand noch viel zu wenig Beachtung findet. Wer hat noch nicht von der Geschichte der Skalverei in den Vereinigten Staaten gehört? - Das Thema kennt fast jeder! Aber das hier dargestellte klingt verdächtig unbekannt.

    (Überhaupt finde ich, dass in der Schule asiatische und afrikanische Geschichte viel zu wenig vermittelt wird)
     
  16. 18. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    ich möchte hier niemand beleidigen oder schlecht machen...aber für mich ist echtes mitleid aufkeinen fall mit wissen über ein ereignis oder mitgefühl, bzw das was man so nennt, gleichzusetzen. ganz im gegenteil ich finde es besser eine erliche meinung zu äußern, welche bei mir ebend so aussieht das es mir egal ist, anstatt zu heucheln. heuchel hört sich evtl hart an, wie bereits erwähnt, spiegelt meinen gedankengang aber recht gut wieder. also fühlt euch nicht angegriffen oder so:]
     
  17. 19. Februar 2010
    AW: Die vergessenen Sklaven

    ich habe die doku mal gesehen, war schon krass, v.a. dass es Sklaverei immer noch gibt. Solche Probleme kennt so gut wie keiner in Europa. Das Geheuchle hast du überall knut, nur interessiert mich das Moralgetue auch nicht, mich interessiert Geschicht und mit welchen Probleme die versch. Länder der Welt zu kämpfen haben. WEnn es dich nicht interessiert, ist es schade, aber gleich von Heuchelei zu rede, finde ich ein bisschen komisch, es gibt auch Leute, die an Bildung interessiert sind und solch ein Aspekt in der Weltgeschichte ist nicht unwichtig.
     
  18. 25. Februar 2010
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 14. April 2017
    AW: Die vergessenen Sklaven

    nochmal ein kleines Update:


    Bild


    inkl. Zusammenfassung:



    Weltgeschichte der Sklaverei

    Seit dem Mittelalter wurden fünfzig Millionen Afrikaner versklavt. Hauptsächlich von islamischen Eroberern und Staaten. Erst die europäischen Siedler setzten dem brutalen Treiben ein Ende. Der deutsche Historiker Egon Flaig spricht von «humanitärem Kolonialismus».
    Von Botho Keppel


    Gar so finster war Europas Mittelalter doch nicht: Vor tausend Jahren waren die Territorien nördlich und westlich der Alpen die einzige Region auf der Welt, in der es keine Sklaven gab. Adlige Güter wurden hier von Bauern bewirtschaftet, die in unterschiedlichen Stufen abhängig und unfrei waren. An die Stelle der Sklaverei trat die Leibeigenschaft. Anders als Sklaven gehörten Leibeigene zur Gesellschaft und fristeten, zwar am unteren Ende der sozialen Leiter, ein halbwegs menschenwürdiges Dasein. Niemand durfte sie verkaufen oder verschleppen. Als die Normannen 1066 England eroberten, unterdrückten sie dort die Reste der Sklaverei rigoros. Im «Sachsenspiegel», dem Gesetzeswerk des deutschen Mittelalters, wurden Mitte des 13. Jahrhunderts sowohl Leibeigenschaft als auch Sklaverei verworfen. Frankreichs König Philipp der Schöne schenkte 1299 allen Leibeigenen auf seinen Krongütern die Freiheit, weil «jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts frei sein muss». Da war es schon, das «natürliche Recht auf Freiheit» – fast 500 Jahre vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, mitten im sogenannten finsteren Mittelalter.

    Stadtluft macht frei

    Das ist eine von vielen Einsichten, die der Rostocker Historiker Egon Flaig in seiner «Weltgeschichte der Sklaverei» liefert. Von Hause aus Althistoriker, kennt er die antike und spätantike Welt mit ihren griechischen und römischen Autoren bis ins Detail. Es ist ein Erlebnis, bei ihm nachzulesen, wie Griechen, Römer und Byzantiner mit ihren Sklaven umgingen. Noch spannender wird es, wenn er mit an der antiken Staatenwelt geschultem Auge die islamische Welt, die frühe Neuzeit und schliesslich den transatlantischen Sklavenhandel in den Blick nimmt.

    Entscheidend für das Verschwinden der Sklaverei in Nordwesteuropa waren ab dem 11. Jahrhundert die Städte. Wenn ein Unfreier die Grenzen einer Stadt überschritt, war er vor seinem Herrn sicher. Nach Ablauf eines Jahres war er frei, mancherorts sogar sofort. «Stadtluft macht frei» – die mittelalterlichen Städte verteidigten das Prinzip eisern. So entstanden Hunderte von Gemeinwesen, «in denen die persönliche Unfreiheit ausdrücklich verboten war», erinnert Flaig. Italienische Händler, die aus ihren Renaissancestädten Sklaven mit über die Alpen brachten, gerieten dort regelmässig in Konflikt mit dem Gesetz.

    Der «schmale Sonderweg» Nordwesteuropas, wie Flaig es nennt, war alles andere als selbstverständlich. Überall sonst war zur gleichen Zeit die Sklaverei eine etablierte Institution. Wikinger und Ungarn, die im frühen Mittelalter regelmässig in Nordwesteuropa einfielen, waren Sklavenjäger. Ebenso Araber, die sich im 9. Jahrhundert in Südfrankreich und Italien festsetzten und sogar Rom belagerten. Vom süditalienischen Bari aus fuhren regelmässig Schiffe mit europäischen Sklaven nach Tunis. Die Ungarn verschifften ihre Beute über die Donau und das Schwarze Meer zu den Sklavenmärkten des Orients. Der grösste Sklavenmarkt in Europa war al-Andalus, das arabisch besetzte Spanien – angeblich ein Hort der Liberalität und des multireligiösen Miteinanders. Ein Mythos, die historische Realität war anders. Um ein Haar, meint Flaig, wäre auch Nordwesteuropa zum Sklavenlieferanten für die islamische Welt geworden – so wie Afrika und wohl mit einem ähnlichen Schicksal. Auf dem Lechfeld hat Otto der Grosse es 955 mit seinem Sieg über die Ungarn verhindert.

    Unersättlicher Sklavenhunger

    Im Orient ist die Sklaverei durch Keilschrifttexte schon für das 3. Jahrtausend vor Christus belegt. Im Ägypten der Pharaonen gab es Kaufsklaven und gebrandmarkte Staatssklaven, die auch verschenkt wurden. Im Alten Testament stehen gesetzliche Vorschriften über die Behandlung von Sklaven. Im Hause des Odysseus, berichtet Homer, gab es fünfzig Sklavinnen. Dreissig männliche Sklaven arbeiteten auf den Weiden. In Athen führten die Siege über das Perserreich zu einem grossen Zustrom von Sklaven. Es konnte ihnen unter Umständen recht gut gehen: Haussklaven wurden in die Familiengemeinschaft aufgenommen. Gutausgebildete Sklaven waren wertvoll und wurden mit grossem Gewinn an Handwerksbetriebe vermietet. Fürchterlich erging es dagegen 20 000 Sklaven in Athens Bergwerken. Antike Bergwerke, weiss Flaig, waren immer mörderische Strafanstalten. War die attische Demokratie auf die Sklaverei angewiesen, wie etwa Marxisten gerne behaupten? Jein, lautet die Antwort des Althistorikers. Die basisdemokratische Mitwirkung von mehreren tausend Bürgern in Volksversammlungen, Gerichtshöfen und Ausschüssen verschlang tatsächlich viel freie Zeit, die die Athener ohne ihre Sklaven nicht gehabt hätten. Doch die griechische Sklaverei war nicht schlimmer als andere, meint Flaig. «Und dennoch brachten andere Kulturen weder die Demokratie hervor noch eine zivile Freiheitsideologie, die der griechischen vergleichbar gewesen wäre.»


    In Rom gewann die Sklaverei an Bedeutung, als die kriegerische Stadtrepublik im dritten vorchristlichen Jahrhundert zur beherrschenden Macht im Mittelmeerraum aufstieg. Zwischen 200 und 50 vor Christus gelangten mindestens 500 000 versklavte Kriegsgefangene nach Italien, etwa 4000 pro Jahr, bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 4 Millionen. Besonders viele Sklaven machte Cäsar in Gallien. Doch Rom führte niemals Krieg, um zu versklaven, sondern immer aus politischen Gründen. Gegner, die sich schnell ergaben, entgingen der Versklavung. Flaig warnt davor, die wirtschaftliche Bedeutung der Sklaverei für Rom zu überschätzen: Auch in der Kaiserzeit waren über fünfzig Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in Italien freie Bauern.

    Billig waren Sklaven in Rom nie: 200 vor Christus kostete ein Arbeitssklave etwa 500 und ein gebildeter Haussklave bis zu 1550 Denare – mehr als das Zehnfache des Jahressolds eines Legionärs. In der späten Kaiserzeit ging die Sklaverei stark zurück. Auf dem Land nahmen immer häufiger an die Scholle gebundene Pächter den Platz der Sklaven ein. Kaiserliche Gesetze schränkten die Verfügungsgewalt der Herren über ihre Sklaven stark ein. Sklaven wurden zu «Menschen, die unter der Herrschaft des römischen Volkes leben», so ein zeitgenössischer Autor. Der Unterschied zwischen Sklaverei und anderen Formen der Unfreiheit begann sich zu verwischen.

    Den grossen Rückschritt brachte der Islam. In kürzester Zeit errichteten arabische Reiterheere ein Weltreich und zugleich, schreibt Flaig, «das grösste und langlebigste sklavistische System der Weltgeschichte». Mit dem grünen Banner des Propheten und der islamischen Scharia kam immer auch regelrechte Herdensklaverei. Islamische Eroberer versklavten viel mehr Menschen, als es die Römer je getan hatten. Allein in Spanien wurden Anfang des 8. Jahrhunderts innerhalb von nur zehn Jahren 150 000 Menschen versklavt. Im 11. Jahrhundert trieben afghanische Reiterheere Hunderttausende versklavte Hindus nach Zentralasien, wo sie gegen Pferde eingetauscht wurden. Das «Hindu-Kush»-Gebirge hat daher seinen Namen: Hindu-Tod.

    Islamische Herrschaft beruhte auf der Sklaverei. Kalifen und Sultane hielten riesige stehende Heere aus Militärsklaven. Weil es in der theokratischen Despotie keine Mitwirkung von Aristokratie oder Bürgern gab, lag alle Bürokratie und Verwaltung in den Händen von Sklaven. In Bergwerken, Mühlen und Plantagen schufteten Hunderttausende Sklaven. Der Sklavenhunger des islamischen Weltreiches war unersättlich. Schon im 9. Jahrhundert brauchten die Kalifen von Bagdad etwa 600 000 Militärsklaven, sogenannte Mamelucken. Auf dem Balkan wurden ab dem 14. Jahrhundert bis zu einem Fünftel aller christlichen Kinder in die Sklaverei abgeführt, zwangsmuslimisiert und zu gefürchteten Janitscharenkriegern ausgebildet. Dies Schicksal muss in viereinhalb Jahrhunderten türkischer Balkanherrschaft Millionen Kinder getroffen haben, schätzt Flaig.

    An den Rändern des islamischen Weltreiches führten Kalifen, Sultane, Emire und Moguln permanent Krieg, nur um Sklaven zu rauben. Frieden gab es nie. Im 10. Jahrhundert zog etwa der Kalif von Córdoba in 27 Jahren 25 Mal in den Dschihad – den «heiligen Krieg» – gegen die christlichen Gebiete Spaniens, zerstörend, massakrierend, versklavend. Am schlimmsten aber traf es Afrika. Nach und nach wurde der grössere Teil des Kontinents zu einer einzigen riesigen Sklavenlieferzone für die islamische Welt. Millionen schwarzafrikanische Sklaven wurden über den Indischen Ozean von Ostafrika nach Indien und bis nach China geführt. Noch Ende des 19. Jahrhunderts zogen lange Sklavenkarawanen durch die Sahara. Im Sudan und bis tief nach Schwarzafrika hinein entstanden islamisierte Räuberstaaten, die nur eine Aufgabe hatten: Sklavenbeschaffung. Die subsaharischen Sklavenjagden, schreibt Flaig, «waren häufig Genozide im strengen Sinne, da von vielen Ethnien buchstäblich niemand mehr übrig blieb».

    Arabisierte Reiternomaden betrachteten Schwarzafrikaner als natürliches Sklavenreservoir. Die heutige blutige Vertreibung schwarzafrikanischer Sudanesen in Darfur durch berittene arabische Milizen ist ein Echo aus Jahrhunderten islamischer Sklavenjagd: Noch 1871 veranstaltete ein Sultan im heutigen Tschad zu Ehren eines Staatsgasts eine Sklavenhatz. Tausend Jahre islamische Herrschaft und permanente Versklavungskriege in immer grösseren Teilen Afrikas hatten fürchterliche Folgen für den Kontinent, kulturell, sozial, ökonomisch und politisch. Flaig: «Bis heute sind vielerorts die demografischen Entleerungen sichtbar sowie die Spuren des kulturellen Niedergangs bis hinunter auf ein pseudo-steinzeitliches Niveau.»

    Ende des 15. Jahrhunderts klinkten sich die Portugiesen in den innerafrikanischen Sklavenhandel ein. Mit ihren ozeantauglichen Schiffen konnten sie die Sklaven schneller und verlustärmer transportieren und machten an der afrikanischen Westküste gute Geschäfte. 1500 nahm Portugal Brasilien in Besitz. Für die Arbeit auf der ständig wachsenden Zahl von Zuckerrohrplantagen brauchten portugiesische Siedler immer mehr Sklaven. In 300 Jahren kamen auf portugiesischen Schiffen 3,9 Millionen afrikanische Sklaven nach Brasilien – 41 Prozent aller nach Amerika verschleppten Afrikaner. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts brachten auch holländische, französische und englische Sklavenhändler afrikanische Sklaven in die Neue Welt, vor allem in die Karibik. Etwa 365 000 Sklaven wurden zwischen 1600 und 1825 nach Nordamerika transportiert. Weil es ihnen dort vergleichsweise gutging, wuchs ihre Zahl bis 1860 auf vier Millionen.

    In 300 Jahren transatlantischem Sklavenhandel blieben die Europäer immer Händler. Sie jagten nicht, und sie versklavten nicht. Das taten die Afrikaner selber, betont Flaig: «Afrikaner versklavten andere Afrikaner, sie deportierten ihre Opfer, und sie verkauften diese wie Vieh an europäische Händler. Warum? Weil sie überhaupt keine Gemeinsamkeit zwischen sich und ihren versklavten Opfern sahen.» Auf den langen Märschen vom Landesinneren zum Atlantik kamen oft mehr Sklaven ums Leben als auf der Überfahrt nach Amerika. Die afrikanischen Versklaver blieben in Westafrika immer die Herren des Geschäfts: Sie bestimmten den Preis und welcher europäische Kapitän wie viele Sklaven bekam. Tatsächlich war jahrhundertelange islamische Sklavenjagd in Afrika die Voraussetzung für den transatlantischen Sklavenhandel der Europäer, erklärt Flaig. Jene islamisierten afrikanischen Räuberstaaten, für die die Sklavenjagd einziger Existenzzweck war, «vermochten auf jede Nachfrage elastisch zu reagieren» und schufen sie regelrecht. In Sklavenjagd-Dschihads – bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden sie wirklich als «heilige Kriege» deklariert – warfen die Räuberstaaten solche Mengen von Sklaven auf die Märkte, dass diese Kriege «als hauptsächlicher Faktor für den Sklavenexport nach Amerika» erscheinen.

    «Humanitärer Kolonialismus»

    Der transatlantische Sklavenhandel ist gut erforscht. Von 1519 bis 1867 wurden in etwa 27 000 Sklaventransporten 11,06 Millionen Afrikaner nach Amerika verschleppt. Noch mehr fielen in freilich viel längerer Zeit zwischen 650 und 1920 islamischer Sklaverei zum Opfer: mindestens 17 Millionen. Rechnet man die Sklaven hinzu, die in den subsaharischen Sklavenjägerländern blieben, so wurden in 1300 Jahren insgesamt wohl über 50 Millionen Afrikaner versklavt. Noch nicht mitgerechnet ist dabei die grosse Zahl von Alten und Kindern, die in den unendlich vielen, fürchterlichen Sklavenrazzien niedergemetzelt wurden. Flaig glaubt, dass auch die düstersten Zahlen noch nach oben korrigiert werden müssen: Alleine die islamische Militärsklaverei erforderte über die Jahrhunderte einen Sklavenimport von weit über 20 Millionen Menschen. Gerne unterschlagen werden 1,2 Millionen Europäer, die Piraten aus Algier, Tunis und Tripolis zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert von den Küsten Spaniens, Frankreichs und vor allem Italiens raubten. Sogar bis in die Themsemündung und nach Island fuhren die nordafrikanischen Sklavenjäger.

    Vom ersten Tag des transatlantischen Sklavenhandels an führten die Europäer in der Alten wie in der Neuen Welt eine erregte Debatte über die Sklaverei. 1794 wurde sie von der französischen Nationalversammlung in allen französischen Territorien verboten. 1833 folgte das britische Parlament dem französischen Beispiel. Auf dem Wiener Kongress beschlossen 1815 die europäischen Monarchen, den Sklavenhandel zu unterbinden. Von da an machte die britische Marine Jagd auf Sklavenschiffe, blockierte die westafrikanische Küste und würgte den transatlantischen Sklavenhandel ab. Der jahrzehntelange Einsatz als maritimer Weltpolizist kostete London viel Geld.

    In der islamischen Welt dagegen gab es nie eine Diskussion über die Sklaverei. Weil Sklaven im Koran vorkommen und auch der Prophet Sklaven hatte, war die Sklaverei über jeden Zweifel erhaben. Das Osmanische Reich wehrte sich gegen britischen Druck. Auf der arabischen Halbinsel drohten Aufstände, als über das Verbot der Sklaverei verhandelt wurde. Die Araber wurden denn auch vom halbherzigen Sklavenhandelsverbot der Osmanen ausgenommen. Erst als die Briten 1882 Ägypten besetzten, endete der Sklavenhandel auch im Nahen Osten. In Afrika gingen die Versklavungskriege weiter, erfassten Zentralafrika und das Kongobecken. Arabische Sklaven- jäger erreichten die Grossen Seen. In Europa drängten darum die Abolitionisten – die Gegner der Sklaverei – darauf, die Sklavenjagden in Afrika gewaltsam zu beenden. Nichts anderes, meint Flaig, war der Ausgangspunkt der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika.

    Tatsächlich konnten die europäischen Kolonialmächte das gewaltsame Versklaven in Afrika fast völlig unterbinden. Flaig spricht darum vom «humanitären Kolonialismus» der Europäer in Afrika und wartet mit einer provokanten Schlussfolgerung auf: «Der europäische Kolonialismus [. . .] hat Afrika nach einer 1000-jährigen Geschichte von blutigster Gewalt und Völkermorden die Möglichkeit zu neuen Wegen eröffnet. Freilich unter kolonialer Aufsicht.» Wären die Europäer nicht in Afrika geblieben, so Flaig, wäre die Sklaverei sofort zurückgekehrt. Die starke These wird zu Diskussionen und Historiker-Debatten führen. Ein Rezensent der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit hat sich prompt über Flaigs Sicht auf den europäischen Kolonialismus empört. Allerdings ohne Argumente anzuführen. Die sind, bis jetzt jedenfalls, auf der Seite des Rostocker Althistorikers.

    Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei. C. H. Beck, 2009. 238 S., Fr. 22.90

    Botho Keppel ist Historiker und Journalist in München.


    Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 08/10
     
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