"Dynamische Religion" - Oxymoron?!

Dieses Thema im Forum "Literatur & Kunst" wurde erstellt von Sachxe, 24. Juni 2010 .

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  1. 24. Juni 2010
    servus leute,

    ich sitze gerade an einem essay und würd dazu gerne mal eine frage hier in den raum werfen, sodass evtl. eine diskussion oder interessante gedanken dazu eingebracht werden können.

    in vielen religionswissenschaftlichen büchern, die bspw. eine weltreligion chronologisch bearbeiten, existiert meist ein kapitel über die anpassungsproblematiken einer religion in der moderne und dessen zwangsläufig damit einhergehende veränderungen. nun stellt sich aber an einem gewissen ideellen punkt die grundsatz-frage, inwieweit eine religion das überhaupt vermag.

    die religion definiert nicht sich nicht über den menschen, sondern als eigenes system, an dem wir teilhaben. damit ist es nicht nur stetig, sondern müsste konsequenterweise auch die regeln setzen, die unser leben und den kreislauf des universums bestimmen. ironischerweise lehrt uns die geschichte, das gerade das gegenteil der fall ist: religionen versinken im nebel der zeit, wenn sie nicht rechtzeitig die notbremse ziehen und ihre verkrusteten ideologischen ansatzpunkte den gegenwärtigen bedürfnissen ihrer anhänger anpassen. religion muss also erstens änderbar (wir könnten es diplomatisch auch als additiv beschreiben, sodass der kerngedanke der religion selbst doch stetig bleibt) und zweitens dynamisch sein, damit führt sie sich nach ihrer definition aber selbst ad absurdum.

    wie seht ihr das? büßt eine religion nicht automatisch ihr existenzrecht ein, wenn sie den schritt richtung fortschritt setzt?

    weist mich bitte darauf hin, wenn hier ein logischer fehler vorliegt, ansonsten freue ich mich auf eure gedanken dazu...
     
  2. 24. Juni 2010
    AW: "Dynamische Religion" - Oxymoron?!

    Ich greife mir als Beispiel das Christentum, wenn dir das recht ist.

    Das Christentum hat sich in meinen Augen im frühen Mittelalter wegbewegt von den Ursprungsgedanken und begonnen eine Eingliederung und Anpassung an die außerreligiöse Gesellschaft zu vollziehen. Moralische Grenzen wurden verwischt, ethische Grundsätze gleichsam annuliert, der Übergang zu einer Institution mit weltlichem Charakter, dessen Anspruch auf einen Posthumanen Wesenszug als belächelnswert gesehen werden darf.

    Die Integration des Christentums in die gesellschaftlichen Strukturen via der Kirche zieht sich durch das Mittelalter und findet seinen Höhepunkt in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Aus etwas Geistlichem, Interideologischem ist ein innergesellschaftlicher Koloss geworden, der sich anhand seine Charakterzüge kaum von anderen unterscheiden lässt und seine Ursprungswerte nur noch verbal vertritt.

    Die Reformation bedingt, in all ihrem unterschwelligen Fehlgang im nahen Fortgang der Geschichte, eine Rückbesinnung zu ebenjenen Urwerten, die das Christentum eigentlich definieren. Für mich sind die vergangenen Jahrhunderte eine Rückkehr zu den Wurzeln des christlichen Ethik, der Moral- und Rechtsvorstellungen.

    Wenn Religion dynamisch wird, verliert sie ihr eigentliches Gesicht, so sieht man es am Christentum. Der heutige, richtige Weg prägt Leben, er lässt sich nicht mehr durch diese verändern. Andernfalls ist es ein Irrglaube, der zwar immerhin angepasst an die jetzige Gesellschaft ist, aber immernoch einen Schritt in die falsche Richtung macht.

    Entweder es gelingt das Christentum in der momentanen gesellschaftlichen, ethischen, moralischen und rechtlichen Situation grundsatzkonform auszuüben, oder man schafft eine angepasste Situation, angepasst an das Christentum. Da dies heute in meinen Augen nicht nötig ist, obliegt dem Christentum ein Existenzrecht, aufgrund minimaler Dynamik bei maximaler Integrität, wobei Integrität vielleicht das falsche Wort ist und man besser Existenz mit Wechselbeziehung sagen sollte.

    Ich hoffe, ich habe das jetzt verständlich dargelegt, Kritik darf gerne geübt werden.
     
  3. 24. Juni 2010
    AW: "Dynamische Religion" - Oxymoron?!

    Diesen richtigen Äußerungen möchte ich noch hinzufügen, dass einige Grundsatzunterscheidungen - sowohl allgemein als auch insbesondere auf das Christentum bezogen - zu beachten sind.
    Zunächst: Kirche und Christentum. Man muss versuchen, beide Aspekte getrennt voneinander zu betrachten, kann aber gleichzeitig bei vielen Entwicklungen keine gesonderte Beurteilung vollziehen.
    Dann, allgemein auf Religionen bezogen: Glaube und Kultur. Grundsätzliche Auffassungen wie die des Christentums, dass Gott bedingungslos alle Menschen liebt, brauchen keine Anpassung und unterliegen damit auch dauerhaft keiner Dynamik.
    Die Kultur einer Religion jedoch meint deren aktives und meist rituell behaftetes Leben. Gottesdienste oder rituelle Gebete sind das Recht eines jeden Gläubigen und bedürfen keiner Anpassung - dieses kulturelle Ausleben einer Glaubenskultur führt jedoch häufig zur Ausweitung der ursprünglichen religiösen Bekenntnisse sowie Texte. Hier finden das Tradieren sowie die dynamische Anpassung statt. Ergo müssen in diesem Bereich konkrete Entwicklungen angesprochen werden, so dass eine Bewertung ihrer Daseinsberechtigung vorgenommen werden kann.
    Spricht man also über dynamische Prozesse innerhalb der historischen Entwicklung einer Religion, so muss präzisiert werden, ob man sich auf deren Grundsätze oder auf durch gelebte Kultur entstandene Riten und Glaubenszusätze bezieht. Bewertet werden muss das Besondere. bevor auf das Allgemeine geschlossen werden kann.

    Grüße
    Logos
     
  4. 24. Juni 2010
    AW: "Dynamische Religion" - Oxymoron?!

    also erstmal vielen dank für die beiden posts - leider stimme ich euren ausführungen zu, was eine diskussion schwierig macht :]

    nehmen wir das beispiel buddhismus. die ältesten schulen des buddhismus, die mittels ritualen oder meditation (je nach schule) den weg zur erleuchtung suchen, waren auf mönche ausgerichtet, also personen, die ihr ganzes leben der religion widmeten. da dies natürlich nicht für den einfachen bauer möglich ist, wurde später der buddhismus erweitert und massentauglich gemacht, indem verschiedenen wege zur erleuchtung akzeptiert wurden, die auch von laien ausgeübt werden konnten. außerdem sieht man erst relativ spät in der entwicklung des buddhismus den begriff wiedergeburt fallen, ein aspekt, der ebenfalls erst spät in die religion miteingeflossen ist.

    in anbetracht dessen und den schönen ausführungen zum christentum liegt doch die frage nach der wahrhaftigkeit der religion zusammen. aber nicht für uns, sondern für die gläubigen: ich kann nicht die logik nachvollziehen, mit der ein katholik hinter seiner religion steht, obwohl bspw. ein unfehlbarkeitsdogma (mals als schlechtes beispiel) ganz klar das dogma ad absurdum führt, allein von der historischen handlungsbetrachtung früherer päpste, ganz zu schweigen von pius' xii. handeln selbst.
     
  5. 24. Juni 2010
    AW: "Dynamische Religion" - Oxymoron?!

    Nun, zunächst denke ich, dass der Buddhismus trotz regelartiger Züge, schwerlich mit den großen monotheistischen und anderen polytheistischen Religionen zu vergleichen ist. Das Fehlen einer absoluten Omnipräsenz und deren unumstößlichen Leitlinien fördert eine gewisse Flexibilität, wie wir sie trotzdem auch zum Beispiel im Christentum finden, wenn wir Sekten wie die Zeugen Jehovas betrachten.

    Da letztere aber wiederum von einem falschen Religionsverständnis geprägt sind, ist es wohl nicht erforderlich breit auf einige Gemeinsamkeiten einzugehen.

    Der Buddhismus ist im Grunde genommen ein Weg zur Erleuchtung mittels Ich-Bezogener Akte, ein fehlendes Regelwerk macht es für den Buddhismus wesentlich einfacher, soziale Integrität zu üben, wobei dies nicht bedeutet, dass eine Anpassung unter allen Umständen möglich ist.
    Für mich entzieht sich der buddhistische Lebensweg durch seine variable Weise, die selbstverständlich zum Teil durch seine angesprochene Massentauglichkeit bedingt ist, aber andererseits schon in seinen Grundzügen fesgelegt ist, soweit ich mein Wissen korrekt revidiere.

    Dies ist wohl einer der größten und nachvollziehbarsten Kritikpunkte an den Sakramenten und im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Dogmen der katholischen Kirche. Ich stimme dir zu, dass die Ausübung all dessen nicht in den Grundsätzen des Christentums steckt, beziehungsweise nicht in den Formen, wie sie heute praktiziert werden. Trotzdem tue ich mich schwer hier von Dynamik oder Flexibilität zu sprechen, da diesen Dingen wohl kein Charakter der Angleichung und Integration beiliegt.

    Im Gegenteil, die Verschachtelung innerhalb der katholischen Kirche erschwert die Transparenz und unmittelbare Erfassung der wesentlichen Grundgedanken. Für mich sind diese Züge definitiv Abweichungen von der christlichen Basis, allerings nicht immer soweit, als dass man sie als schädigend bezeichnen sollte. Die Grundgedanken werden, soweit mein Empfinden, weiterhin vertreten, dort findet sich keine Diskrepanz zwischen dem Soll und Tun.

    Was ich für interessant und bedenkenswert halte ist, ob die katholische Kirche, die, wie heute nahezu keinem bekannt und bewusst, und gerade deshalb oft Anlass weitgehender negativer Positionsuntermauerungen, durch die Reformation eine einschneidende Wandlung erfahren hat und in nicht wenigen Belangen zunächst fortschrittlicher als das neu entstandene Protestantentum auftrat, was nicht zuletzt der Person Luthers geschuldet war, eine weitere Wandlung, ohne den Zeitaspekt zu berücksichtigen, erfährt und noch mehr zu ihrer Urquelle zurückkehrt und den Kritikpunkt der falschen Dynamik widerlegt.
     
  6. 25. Juni 2010
    AW: "Dynamische Religion" - Oxymoron?!

    belege? andeutungen hin zu diesem prozess?

    die gegenreformatorischen strömungen im 17. jahrhundert hatten bestimmt keinesfalls die absicht, sich um fortschritt zu bemühen, sondern eher um revision. der einzige signifikante versuch eines fortschrittsprozesses innerhalb des katholizismus könnte man noch dem modernismus zuschreiben. ironischerweise deckte gerade der modernismus den widerspruch zwischen religion und fortschritt um einen weiteren aspekt auf, nämlich der des dogmas, das sie akribisch sezierten.

    allein von der ausgangsbasis ist es dem katholizismus unmöglich, zu wurzeln zurückzukehren, da allein diese schon eine pervertierte form des urchristentums sind, die durch paulus' mission und institutionalisierung der religion fernab von ihren kernaspekten getragen wurde. es ist nicht einmal mehr möglich, genau zu definieren, in welchem aspekt das christentum womöglich eine ******dgeburt aus dem bis ins 2. jahrhundert n. chr. dominierenden arianismus ist, der sich trotz nicäa ein jahrhundert später wusste, in die neue staatsreligion geschickt einzuflechten, um nicht verloren zu gehen. in diesem zusammenhang kann man also schlussfolgern, dass die reinheit einer religion nicht zuletzt eine weiße historische weste erfordert, eine voraussetzung, die durch die mündliche tradierung innerhalb der antike und den unzähligen vermengungen von einzelaspekten von minderheitsreligionen unmöglich ist.
     
  7. 25. Juni 2010
    AW: "Dynamische Religion" - Oxymoron?!

    Es ist mehrheitlich aus zuvor einmal verarbeitetem Wissen entnommen, wozu ich dir leider keine konkreten Quellen liefern kann. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um mehrheitlich um Zusammenfassungen von Epochen handelt, von verschiedenen Autoren verfasst, ausschließlich Sekundärliteratur.

    Das ist wohl wahr, es war eine "Schockreaktion", so nenne ich es mal, die trotzdem, wenn auch nicht immer beabsichtigt, vor allem vor dem Gedanken der Nächstenliebe, zu positiven Veränderungen geführt hat. Der Protestantismus hat in seinen Anfangsjahren eine Brutalität an den Tag gelegt, die vor allem gegenüber Nichtgläubigen ausartete.

    Du hast allerdings recht, dass Revision der Hauptaspekt der Veränderung war, allerdings ging mit ihr ein Fortschritt in die richtige Richtung einher, wenn auch nur in einigen Bereichen.

    Darauf bin ich ja zuvor bereits eingegangen, da gleichen sich unsere Meinungen.

    Die Verwendung des Demonstrativpronomes war wohl eine falsche Wahl meinerseits, es ist vielleicht besser von einer Annäherung an die Urquelle und Wurzeln zu sprechen, die das Christentum ausmachen und nicht den Katholizismus.

    Für mich ist die Missionierung Paulus' und die Bildung von Gemeinden keine Abweichung von Kernaspekten des Christentums. Zumal die Gemeinde eine wichtige innerreligiöse Gemeinschaft ist, die den Austausch über den Glauben ermöglicht und vielfältig Hilfestellung bezüglich Problemen gibt, und dies auch kann, ohne in absurder Form eigenmächtig zu expandieren, auf eine Art, die sie von einem Existenzrecht unter dem Mantel namens Christentum freispricht.

    Über Entstehungsgeschichte kann man sich endlos streiten, und man wird seltenst zu einem Punkt kommen, an dem man definitiv sagen kann, wie es gewesen ist. Aber ohne das Fehlen von Absolutem wäre es wohl auch überflüssig über Themen wie dieses zu diskutieren, geschweige denn überhaupt nachfragen zu stellen.
     
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