US-Gesundheitsreform - Obamas heikle Operation

Dieses Thema im Forum "Politik, Umwelt, Gesellschaft" wurde erstellt von graci, 25. Februar 2010 .

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  1. 25. Februar 2010
    politik

    Der US-Präsident trifft Spitzenvertreter der Demokraten und Republikaner zum TV-Duell, um seine Gesundheitsreform zu retten. Die Einigungschancen sind gering.
    Von Christoph von Marschall, Washington
    25.2.2010 - 10:13 Uhr

    © Jim Lo Scalzo/EPA/dpa
    {bild-down: http://images.zeit.de/politik/ausland/2010-02/obama-4/obama-4-540x304.jpg}

    Kämpft um sein zentrales innenpolitisches Projekt: Präsident Barack Obama

    Bei dem TV-Duell geht es um das Schicksal der Obama-Präsidentschaft. Die Gesundheitsreform, Barack Obamas zentrales innenpolitisches Anliegen, schien bereits gescheitert. Wenn er sie wiederbeleben kann und sie doch noch gelingt, wäre das ein großer Erfolg. Wenn nicht, gilt er als Präsident, der seinen Willen trotz Parlamentsmehrheit nicht durchsetzen kann.

    Wie ist der Ablauf?

    Das Treffen beginnt um 16 Uhr europäischer Zeit im Blair House, dem Gästehaus des Präsidenten, schräg gegenüber der Nordfassade des Weißen Hauses. Die Debatte ist auf sechs Stunden angesetzt und wird im Fernsehen übertragen. Die genaue Zahl der Teilnehmer ist noch unklar. Manche Gäste behaupten, sie könnten nicht zusagen, solange sie befürchten müssen, dass der Gipfel eine Showveranstaltung sei. Auch das gehört zur politischen Taktik. Obama hat von beiden Parteien die Vorsitzenden der Ausschüsse im Abgeordnetenhaus und im Senat eingeladen, die mit der Gesundheitsreform befasst sind. Sie dürfen weitere Spitzenpolitiker mitbringen. Die Gesamtzahl wird am Ende vermutlich bei etwa 50 Gästen liegen.

    Hauptziel aller Beteiligten ist es, die öffentliche Meinung für ihre jeweilige Position zu gewinnen. Tagelang wurde über die Inszenierung, die Zahl der Tische und ihre Anordnung, die Positionen der Kameras, die Reihenfolge der Redner und die Themenliste verhandelt. Selbst das Mittagessen wurde besprochen. Man wird in einem großen Rechteck sitzen. Dabei gibt es kein „box lunch“, das in den USA verbreitete Set aus Sandwich, Obst und Süßriegel in einem Pappbehälter, sondern ein Buffet.

    Obama wird zur Eröffnung die Kernpunkte seines Kompromissvorschlags vortragen, der seit Montag auf der Internetseite des Weißen Hauses steht. Er basiert auf den voneinander abweichenden Entwürfen, die das Abgeordnetenhaus und der Senat 2009 beschlossen haben und die noch zu einer gemeinsamen Fassung verschmolzen werden müssen. Ihm antworten Vertreter der Republikaner und Demokraten, die die Parteien benennen, aufgeteilt auf vier Themen: Kostenkontrolle, Änderung umstrittener Versicherungspraktiken, Auswirkungen auf Staatsbudget und Defizit sowie Einbeziehung Nichtversicherter in das System.

    Wie gespannt ist die Öffentlichkeit darauf?

    „Joe Avarage“, der Durchschnittsamerikaner, wird die Diskussion wohl kaum live verfolgen. Erstens fallen die sechs Stunden in die Arbeitszeit. Zweitens sind die Bürger den Streit nach mehr als einem Jahr öffentlicher Debatte leid. Sie werden sich aber für die Zusammenfassung in den Abendnachrichten interessieren. Änderungen im Versicherungssystem haben in den USA viel radikalere Folgen für die Bürger als in Europa, weil es keine gesetzliche Grundabsicherung für alle gibt. Jedes Jahr gehen rund 800 000 Familien bankrott und verlieren ihre Häuser wegen Krankheitskosten, die sie privat tragen müssen. Alle, die sich professionell mit Politik befassen, schauen schon tagsüber genau hin, weil so viel vom Ausgang des Treffens abhängt.

    Wie ist das Treffen entstanden?

    Paradoxerweise haben die Republikaner Obama die Vorlage zu dem Gipfel gegeben, den sie eigentlich nicht wollen, aber nun schlecht boykottieren können. Seit Wochen werfen sie ihm vor, er habe im Wahlkampf mehr Transparenz versprochen und gesagt, er wolle die großen Themen öffentlich statt hinter verschlossenen Türen diskutieren. Von der Gesundheitsdebatte habe er die Republikaner jedoch ausgeschlossen, deren Reformvorschläge ignoriert und Deals mit seinen Parteifreunden gemacht, um seine Reform mit den demokratischen Mehrheiten in Abgeordnetenhaus und Senat zu beschließen. Demokraten sagen, die Republikaner hätten die Beratungen gezielt verzögert. Deshalb habe man schließlich alleine handeln müssen.

    Im Januar stand Obama kurz vor dem Ziel. Beide Kammern hatten ihre Gesetzesversionen verabschiedet und mussten nur noch eine Kompromissfassung aushandeln und verabschieden. Doch dann verloren die Demokraten die Senatsnachwahl in Massachusetts und damit die 60-Stimmen-Mehrheit im Senat, die normalerweise für Gesetze nötig ist. In der neuen Lage schlug Obama die Debatte vor laufenden Kameras vor, um öffentliche Unterstützung zu mobilisieren.

    Um was geht es?

    Nach offizieller Darstellung dient der Gipfel der Suche nach Kompromissen zwischen gegensätzlichen Sachpositionen der Republikaner und Demokraten. Tatsächlich geht es um den strategischen Kampf, ob Obama doch noch einen Weg findet, seine Reform durch den Kongress zu bringen, obwohl er die entscheidende Stimme im Senat verloren hat. Es gibt ein solches Verfahren, es heißt „Reconciliation“ und war gedacht, um über Budgetfragen zu bereits beschlossenen Gesetzen abzustimmen. Dann sind statt 60 nur 51 Stimmen im Senat nötig. Die Republikaner rufen „Foul!“: Es sei ein Regelbruch, eine so umfassende Reform damit zu beschließen. Doch George W. Bush hat seine Steuersenkungen, bei denen es um noch größere Summen ging, auf diesem Weg verabschieden lassen und ebenso die Reform von Medicare, der Gesundheitsversorgung der Rentner und Pensionäre. In Wirklichkeit geht es bei dem Gipfel darum, welcher Argumentation die Mehrheit der Bürger hinterher folgt: Ist Obamas Anliegen so überzeugend, dass er es legitimerweise per „Reconciliation“ erreichen darf? Oder haben die Republikaner recht mit dem Vorwurf, Obama sei zu miesen Tricks und zum Rechtsbruch bereit, um seine Ziele zu erreichen?

    Was will wer erreichen?

    Ziel der Republikaner ist, die Gesundheitsreform zu verhindern, um Obama und die Demokraten als handlungsunfähig vorzuführen. Sie dürfen aber nicht als pauschale Neinsager erscheinen. Deshalb müssen sie Vorschläge machen, wie sie die explodierenden Kosten bekämpfen und mehr Amerikanern eine Versicherung verschaffen wollen. Eine klare Mehrheit wäre „enttäuscht“ (38 Prozent) oder sogar „verärgert“ (20 Prozent), wenn der Kongress die Gesundheitsreform nach einem Jahr Debatte komplett aufgibt. Offiziell fordern die Republikaner, man dürfe nicht auf den beschlossenen Entwürfen von Abgeordnetenhaus und Senat aufbauen, sondern müsse noch einmal bei null anfangen, weil sie angeblich bisher nicht in die Debatte einbezogen wurden.

    Am schwierigsten ist die Lage für die Demokraten. Die Linke ist aufgebracht, weil ihre Kernforderungen wie das Angebot einer staatlich getragenen Versicherung als Konkurrenz zu privaten Anbietern nicht in den Kompromiss aufgenommen werden. Moderate Demokraten aus konservativen Bundesstaaten fürchten um ihre Wiederwahl im Herbst, weil Obamas Paket ihren Wählern in Teilen bereits zu weit geht und zudem mehr als 900 Milliarden Dollar über die nächsten zehn Jahre kosten wird. Deshalb steht es auf der Kippe, ob die nötige Mehrheit in beiden Kongresskammern rund acht Monate vor der Wahl nochmals zustande kommt.

    Obama möchte die Republikaner als Blockierer vorführen, damit der Ausweg, die Reform per „Reconciliation“ zu beschließen, legitim erscheint. Im besten Fall lassen sich einzelne Republikaner auf seine Kompromissvorschläge ein und scheren aus der Nein-Front aus. Laut Umfragen will eine klare Mehrheit, dass die Gesundheitsreform mit überparteilicher Mehrheit verabschiedet wird. Zweitens möchte Obama jenen Demokraten Mut einflößen, für die Reform zu stimmen, die um ihre Wiederwahl fürchten.

    Welches Ergebnis ist zu erwarten und wie geht es weiter?

    US-Kommentatoren erwarten, dass die Republikaner bei ihrem verschleierten Nein zur Reform bleiben. Im Licht der Umfragen nach dem Gipfel und der Zählung, auf wie viele Stimmen im Kongress er bauen kann, werde Obama wohl den Weg der „Reconciliation“ einschlagen.
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    sehr guter artikel, so sollte journalismus sein. hoffe die vielen millionen amis ohne jegliche krankenversicherung kriegen sie endlich. unsere "vorzeigedemokratie" und dann so was in deren Krankenversicherungssystem
     
  2. 25. Februar 2010
    AW: US-Gesundheitsreform - Obamas heikle Operation

    Obama wusste doch schon im Vorraus, dass er dieses Versprechen niemals halten kann.
    Selbst in seiner eigenen Partei hatte er für seine Pläne gerade so die Mehrheit hinter sich.
    Und war damit meilenweit hinter der erforderlichen Mehrheit im Kongress.

    Kennedy sei dank haben nun die Republikaner die Möglichkeit zu blockieren und nach der nächsten Wahl ist die Mehrheit dann ganz weg.
    Was dies bedeutete dürfte klar sein.


    Die Amerikaner wollen nuneinmal keine Bevormundung vom Staat. In ihren Augen ist der Vorschlag von Obama Sozialismus pur. Ich kann sie da verstehen. In Amerika wird halt noch die Freiheit des Einzelnen und die Selbstbestimmung großgeschrieben. Mit allen Konsequenzen.
    Und was die Mehrheit will wird gemacht. Dies ist Demokratie.


    Daran wird sich erst was ändern, wenn die Armen zur Wahl gehen. Aber dies wird nicht passieren.
    Ergo werden die Republikaner gewinnen und Obama verlieren.
     
  3. 26. Februar 2010
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 15. April 2017
    AW: US-Gesundheitsreform - Obamas heikle Operation

    hier nach der Debatte:

    Ausland
    Gesundheitsreform
    Obama entlarvt Blockade der Republikaner

    Der Gesundheitsgipfel hat Präsident und Republikaner nicht näher gebracht. Dennoch markiert diese Debatte einen Wendepunkt.
    Von Martin Klingst
    26.2.2010 - 06:50 Uhr

    © Shawn Thew/ dpa
    obama-gesundheitsreform-540x304.jpg
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    Mehr als sieben Stunden Werben und Verkaufen: US-Präsident Obama und Ressortchefin Sebelius mühten sich um Zustimmung für ihre Gesundheitsreform

    Donnerstag, der 25. Februar 2010 könnte in die amerikanische Geschichte eingehen. Noch nie zuvor hat ein Präsident mit der Opposition fast neun Stunden lang vor laufenden Kameras über ein drängendes wirtschaftliches, soziales und medizinisches Problem gestritten. So könnte dieser Tag einen Wendepunkt markieren: Für die fast totgesagte Gesundheitsreform – und für das politische Schicksal Barack Obamas und seiner Demokratischen Partei.

    Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen, Republikaner und Demokraten sind sich am Runden Tisch nicht bedeutend näher gekommen. Der prinzipielle Unterschied zwischen ihnen bleibt. Die Republikaner werfen den Demokraten vor, sie planten die staatliche Übernahme des gewaltigen Gesundheitssektors. Die Demokraten beschuldigen die Republikaner, sie schlössen ihre Augen vor den gewaltigen Problemen.

    Die Demokraten wollen eine umfassende Gesundheitsreform, sie wollen, dass mindestens 30 der insgesamt 47 Millionen nicht versicherten Amerikaner Mitglied einer Krankenkasse werden – zu bezahlbaren Bedingungen. Und sie wollen, dass der Staat den privaten Versicherungen Bedingungen setzt. Dass er es zum Beispiel nicht weiter durchgehen lässt, dass kranke Menschen aus Kostengründen abgelehnt oder rausgeschmissen werden.

    Die Republikaner hingegen wollen eine Reform in kleinen Schritten. Sie misstrauen großen Würfen und befürchten einen riesigen staatlichen Verwaltungsapparat. Sie möchten in erster Linie die gigantischen Kosten des Gesundheitsapparates senken, die horrenden Schadensersatzprozesse zügeln, und im Übrigen glauben sie, dass Markt und mehr Konkurrenz die Probleme am Besten im Zaum halten könnten.

    Barack Obama hat diese ideologischen Differenzen nicht überbrücken können. Aber er hat sie meisterlich offengelegt und sich auf die Seite der kleinen Leute geschlagen. Wie kaum ein Zweiter in der Runde kennt er sämtliche Ungerechtigkeiten des Systems und weiß um die vielen Schwierigkeiten dieser so komplizierten Reform. Doch er ließ sich nicht in Detailkämpfe verwickeln und verlor nie die große Linie aus den Augen.

    Wenn immer es erforderlich war, zog sich Obama den weißen Kittel des obersten Gesundheitsexperten über, aber meistens trug er den blauen Anzug des auf Ausgleich bedachten und über den Dingen stehenden Präsidenten. Er war ein Meister im Rollenspiel.

    Donnerstag, der 25. Februar könnte also die entscheidende Wende gebracht haben. Nicht weil Obama einige Republikaner auf seine Seite gezogen hätte. Sondern weil er den Amerikanern in aller Deutlichkeit dargelegt hat, worum es ihm geht: um mehr Gerechtigkeit und um bessere Bedingungen – für Nichtversicherte wie Versicherte.

    Obama hat sich Raum verschafft für einen neuen Anlauf im Kongress. Jetzt muss ein Gesetz kommen, entweder im Alleingang der Demokraten oder in einer schlankeren Form mit Unterstützung einiger Republikaner. Doch egal, wie und mit welchen Tricks es am Ende zustande kommt, es muss kommen, will der Präsident das Heft des Handelns in der Hand behalten. Alles andere wäre fatal für ihn und die Demokraten.

    Die Gesundheitsreform ist ein wirtschaftlicher, ein sozialer, ein politischer – und ein moralischer Imperativ. Am Donnerstag lobten republikanische wie demokratische Abgeordnete das amerikanische Gesundheitssystem als das beste der Welt. Wenn sie krank würden, wollten sie nirgendwo anders behandelt werden.

    Für die Abgeordneten und die ihnen zustehende Krankenversicherung mag das stimmen. Für Millionen Amerikaner aber nicht. An diesem Donnerstag verloren weitere 14.000 Menschen ihren Arbeitsplatz und damit ihre Kassenzugehörigkeit und es starben 1000 Menschen, weil sie nicht versichert waren.
    Copyright: ZEIT ONLINE
    Adresse: Gesundheitsreform: Obama entlarvt Blockade der Republikaner | ZEIT ONLINE

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    hätte sie gerne gesehen. Allerdings musste ich schon grinsen beim Absatz, wo es darum geht, dass die Abgeordneten ihr System als das beste der Welt bezeichnen. Das ist einfach nur lol
     
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