#1 26. November 2008 Lycos Europe ist am Ende. Einst gehörte die Marke zu den Großen der Netz-Wirtschaft, wurde zum zentralen Element der Web-Strategie von Bertelsmann. Jetzt stirbt das Spin-off einen leisen Tod. Protokoll eines sehr teuren Absturzes. Hunde, die bellen, beißen nicht: In Rückschau drängt sich die Spruchweisheit geradezu auf, wenn man an Lycos denkt. Die Internet-Firma hatte sich einst einen Labrador zum Sympathieträger und später zum offiziellen Symbol gewählt. Einen freundlichen Schnüffler, schnell, zuverlässig und ganz bestimmt nicht böse oder bissig. Jetzt hat es sich ausgeschnuppert, zumindest in Europa. Der hiesige Ableger einer Marke, die zu den Hochzeiten des Web-Booms einmal zwölf Milliarden Dollar wert war, wird zerlegt und verscherbelt. Anfangs passte der Spürhund als Maskottchen: In seinen ersten fünf, sechs Jahren war Lycos in erster Linie ein Suchmaschinenbetreiber. Das bereits 1994 gegründete Unternehmen erlebte einen beispiellosen Boom, der es ganz an die Spitze der mächtig wachsenden Internet-Unternehmen trug. Anders als viele Konkurrenten setzte Lycos dabei von Anfang an auch auf Werbung zur Verbreitung der eigenen Marke: Der Lycos-Labrador schnüffelte und fand, was er suchte, in Print-Anzeigen, TV-Spots, in Kinowerbung und auf Plakaten. Bald schon wurde Lycos zu einer der bekanntesten im Web geborenen Marken. Im Windschatten von Yahoo und Altavista, den mächtigsten Suchmaschinen-Marken der ersten Jahre, gedieh Lycos und überholte die Platzhirschen schließlich auf den letzten Metern des alten Millenniums - und des Dotcom-Booms. Als der seinen Höhepunkt erreichte, stand auch Lycos auf dem Gipfel. So unglaublich das heute scheint: 1999 war Lycos die meistbesuchte und genutzte Web-Seite weltweit. In rund 40 Nationen unterhielt das Unternehmen Dependancen oder Joint Ventures. Zugleich hatte das Unternehmen kräftig eingekauft, sich damals mächtige Adressen wie den Homepage-für-Jedermann-Dienst Tripod einverleibt. Trotzdem machte das seit 1996 börsennotierte Unternehmen Profite - eine Seltenheit zu dieser Zeit. Expansion bis zum Platzen der Blase Da kam es kaum überraschend, als im Herbst 2000, nur Monate vor dem Dotcom-Crash das Unternehmen Terra Networks S.A., eine Tochter der spanischen Telefonica, rund 12,5 Milliarden Dollar hinlegte, um Lycos.com zu übernehmen. Das Unternehmen wurde damit zu einem europäischen - und verlor sein Profil. Weiterverkauft wurde Lycos.com im Jahre 2004 an das südkoreanische Unternehmen Daum - für 95,4 Millionen Dollar. Spätestens ab da wird die Geschichte des schon damals tief gefallenen Markennamens kompliziert. Allein in Europa gab es Lycos nun gleich zweimal. Bereits 1997 hatte Lycos mit dem deutschen Medienunternehmen Bertelsmann und der Terra-Mutter Telefonica als Joint Venture Lycos Europe ausgegründet. Die Firma mit Sitzen in Gütersloh, Haarlem in den Niederlanden und sieben weiteren europäischen Ländern inklusive Spanien firmierte unter dem Markennamen Lycos, der skurrilerweise auch nach dem Verkauf an Terra in den USA verblieb. Zeitweilig firmierten unter dem Namen Lycos und diversen so benannten Web-Seiten verschiedene Unternehmen in Europa, USA und Asien, die eine Marke nutzten, an denen die Carnegie Mellon Universität in den USA die Rechte hielt. In Spanien gab es dazu auch Terra Lycos, deren Hauptgeschäftsfeld aber in den USA lag. Und was für Geschäfte da alles gemacht wurden. Ähnlich wie Yahoo oder AOL hatte sich Lycos längst verzettelt: Aus dem Suchdienst war ein Portaldienst erwachsen, der alles zugleich sein wollte - vom News-Netzwerk über E-Mail-Dienste, vom Access-Provider-Geschäft bis zur Shopping-Adresse. Selbst das ursprüngliche Kerngeschäft der Suche zerfaserte, Lycos führte gleich mehrere Suchmarken. Vielfalt? Eher Marken-Wirrwarr mit Inhouse-Konkurrenz Lycos Europe machte das meiste fröhlich mit - und erlitt parallel zur Mutterfirma die sich daraus ergebenden Ups und Downs der Popularität der einst so prominenten Marke. Zeitweilig unterhielt Lycos Europe neben der Lycos-Suche auch noch die Eigenentwicklung Fireball sowie - als Übernahme aus den USA - die deutsche Hotbot-Version. Jahre vor Google News bot Lycos Europe mit Paperball dazu eine eigene Nachrichtensuche an. Alles Kurzzeiterfolge, die selbst Lycos Europe heute eher versteckt: Den kostenlosen Webhosting-Dienst Tripod, Fireball und Paperball gibt es noch immer, und alle bieten einen Link zurück zu Lycos.de. Umgekehrt muss man danach suchen: Die zahlreichen Versuchsballons und Untermarken sind nur noch über die "Lycos von A bis Z"-Liste zu erschließen. Wer bei Lycos auf Webhosting klickt, wird zum Kommerzdienst geleitet. Wer Tripod direkt ansurft, entdeckt eine unter dem Dach von Lycos bestens versteckte Kostenlos-Alternative. Das wirre Konzept ging nicht auf, das ursprüngliche Unternehmen wechselte nochmals den Besitzer, bevor es sich - als Tochterfirma des koreanischen Unternehmens Daum - zumindest in den USA in den letzten Jahren wieder einigermaßen stabilisieren konnte: Dank zahlreicher spezialisierter Unter-Angebote und Tochterfirmen gehört Lycos.com heute wieder zu den Top-25-Web-Destinationen in den USA. Allerdings eher als Shop und Dienstleister. Denn als Suchmaschine hat der Schnüffelhund weltweit ausgedient: Laut Net Applications besitzt Lycos einen Marktanteil, der im Promillebereich nur noch knapp zu messen ist. In Europa sieht das noch deutlich mieser aus: Lycos evaporiert soeben - gut möglich, dass das kaum jemand bemerkt. Alles boomte, nur Lycos nicht Denn die Popularität der Marke befand sich seit geraumer Zeit im freien Fall. Dass das nicht mehr lange gutgehen konnte, hatte sich seit längerem abgezeichnet. Während alle möglichen neuen Angebote boomten, erlitt Lycos einen langsamen, aber stetigen Rückgang der Nutzerschaft - eine Entwicklung deutlich gegen den allgemeinen Trend. Das alles sprach sich sowohl bei den Investoren herum - Lycos ist längst eine Cent-Aktie - als auch bei den Werbekunden. Die entzogen dem Unternehmen in diesem Jahr massiv das Vertrauen. Kaum ein Unternehmen bekam die sich ankündigende Werbeflaute so früh und so brutal mit wie Lycos: Die Werbeumsätze des Unternehmens kollabierten regelrecht, brachen in den ersten acht Monaten 2008 um 42 Prozent ein. Das Ende von Lycos Europe Das ist einem Jahreszwischenbericht zu entnehmen, den Lycos Europe am 28. Oktober 2008 vorlegte. Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass es nur noch darum ging, die Kosten und Verluste (mehr als 17 Millionen Euro in diesem Jahr) unter Kontrolle zu bekommen und zu entscheiden, ob man Lycos Europe und seine Untermarken nun komplett oder in filettierter Form auf den Markt bringen sollte. Am Ende kam dann alles sogar noch viel schlimmer. Am 26. November veröffentlichte das Unternehmen unter dem profanen Titel " LYCOS Europe N.V. veröffentlicht die Ergebnisse der strategischen Prüfung" eine Mitteilung, die man auch so übersetzen könnte: Alles ist vorbei. Auf den Markt gebracht werden Teile des noch guten Fleisches, der Rest wird weggeworfen. Weniger salopp bedeutet es, dass Lycos die Filets "Domain, Shopping" und die "dänischen Portalaktivitäten" auf dem Markt anbietet, während die halb toten "Portal- und Webhostingaktivitäten" eingestellt werden. Als Trostpflaster für die Aktionäre sollen 50 Millionen Euro über eine Sonderausschüttung verteilt werden. Wie man von etwa 700 noch verbliebenen Lycos-Mitarbeiter die angeblich rund 500, die nun ihren Job verlieren werden, trösten will, ist noch nicht klar. Das Unternehmen wolle sie aber, berichtet der Branchendienst kress.de, "aktiv bei der Arbeitsplatzsuche unterstützen". Das alles muss natürlich noch von der Aktionärshauptversammlung, die Lycos für den 12. Dezember einberufen hat, genehmigt werden. Das wird wohl geschehen. Zumindest in Europa hat Lycos schon lange keinen Biss mehr - jetzt hat es auch ausgebellt. Quelle: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,592834,00.html + Multi-Zitat Zitieren