Innere Sicherheit - Wie Brüssel in die Bürgerrechte eingreift

Dieses Thema im Forum "Politik, Umwelt, Gesellschaft" wurde erstellt von graci, 6. März 2010 .

  1. 6. März 2010
    Ausland

    Die mangelnde Rücksicht der EU auf Bürgerrechte sorgt für Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Vorratsdatenspeicherung ist nur ein Beispiel dafür.
    Von Jochen Bittner
    5.3.2010 - 18:21 Uhr

    © EPA/Olivier Hoslet/dpa
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    "Spinnen die Deutschen?": Bundesinnenminister Thomas de Maizière nach einem Treffen mit seinen EU-Kollegen in Brüssel

    Wird den Schöpfern des Lissabon-Vertrages gerade mulmig, weil sie merken was die EU neuerdings alles darf? Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Woche die Vorratsdatenspeicherung für grundgesetzwidrig erklärt. Das deutsche Gesetz, das die Richter wegen unzureichender Genauigkeit und zu breiter Eingriffe in die Grundrechte verwarfen, setzte allerdings nur eine EU-Richtlinie um, die am 15. März 2006 erging. Sie verpflichtet alle 27 Mitgliedsstaaten, fast sämtliche Telekommunikationsdaten ihrer Bürger mindestens ein halbes Jahr aufzubewahren, zum Zwecke der "Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten".

    Mit einigen Jahren Verspätung fragen sich jetzt immer mehr EU-Staaten, was für eine Regelung sie damit eigentlich in die Welt gesetzt haben und welche weiteren Eingriffe in die Bürgerrechte der Lissabon-Vertrag möglich macht. Die Vorratsdatenspeicherung ist – obwohl lange vor Inkrafttreten des Vertrags im vergangen Herbst beschlossen – ein Lehrbeispiel dafür, auf welchen Wegen und von welchen Interessen gelenkt in Zukunft verstärkt die individuellen Freiheiten des Bürgers beschnitten werden können.

    Die neue EU-Kommissarin für Innen- und Justizpolitik, die Schwedin Cecilia Malmström, kündigte soeben – aufgeschreckt auch durch das Karlsruher Urteil – an, die Vorratsdaten-Richtlinie bis September auf ihren Nutzen und schädliche Wirkungen überprüfen zu lassen. Die Richtlinie war von Anfang an umstritten. Irland und die Slowakei hatten im Ministerrat gegen die Sammelanordnung votiert. Doch sie wurden überstimmt.

    Und genau hier beginnt der Fall exemplarisch zu werden für die EU als problematische Rechtssetzungsinstanz. Im Dickicht der Macht- und Gesetzgebungsinstanzen von Brüssel herrscht eine legislative Dynamik, die mit den üblichen Mitteln von Politik und Öffentlichkeit kaum noch zu kontrollieren ist. Daran ändert der Lissabon-Vertrag nichts – im Gegenteil.

    Schon seit 2002 gab es in Brüssel Überlegungen für Datenspeicherungen, um Terroristen nach den Erfahrungen der Anschläge vom 11. September auf die Spur zu kommen. Im Jahr 2005 ging dann plötzlich alles sehr schnell – wegen zweier Ereignissen: Am 1. Juli übernahm Großbritannien die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft; am 7. Juli explodierten in London vier Bomben von Selbstmordattentätern, die in der U-Bahn und in einem Bus 56 Menschen in den Tod rissen. Der damalige britischen Innenminister Charles Clarke macht sich daraufhin daran, die Vorratsdatenspeicherung so schnell wie möglich durch die Brüsseler Instanzen zu peitschen.

    Dazu umging Clarke die EU-Rechtssetzungsregeln. Denn trotz der Schockwelle von London zeigten sich mehrere Staaten skeptisch, ob die Richtlinie verhältnismäßig sein würde. Für Rechtsakte in der Justiz- und Innenpolitik brauchte es damals aber noch Einstimmigkeit im Ministerrat. Die britische Regierung erklärte die Vorratsdatenspeicherung deshalb kurzerhand zu einer Maßnahme zur Harmonisierung des Binnenmarkts. Solche Rechtsvorschriften benötigen im Rat keine Einstimmigkeit, dafür aber muss das Europäische Parlament zustimmen. Das hatte mit dem offenkundigen Missbrauch des Verfahrens wenig Probleme. "Die Briten wussten, dass das Parlament sich nicht gegen sie stellen würde. Denn die Abgeordneten fühlten sich geschmeichelt, dass sie mitreden durften", sagt der Brite Roderick Parkes, Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

    Am 14. Dezember 2005 war alles erledigt. Das Europaparlament stimmte der Vorratsdatenrichtlinie mit 378 zu 197 Stimmen zu. Im Ministerrat stemmten sich Irland und die Slowakei gegen den Trick, die Gesetzgebungsregelungen für den Binnenmarkt zu Zwecke der Terrorbekämpfung zu nutzen, aber sie wurden überstimmt. Irland klagte deswegen vorm Europäischen Gerichtshof. Dessen Richter entschieden jedoch im Februar 2009, welcher Gesetzgebungsweg in Brüssel gewählt werde, müssten die Regierungen entscheiden.

    Das Wichtige an dieser Historie ist: Der Lissabon-Vertrag hat genau dieses Verfahren (Mehrheit im Ministerrat plus Zustimmung des Europäischen Parlamentes) zum Standard für die Gesetzgebung in der Justiz- und Innenpolitik gemacht. Ob künftig weitere Eingriffe in die Bürgerrechte erfolgen, hängt deshalb nun auch davon ab, ob sich die EU-Abgeordneten dagegen stellen. Die wiederum sind jedoch stark von den Stimmungen in ihren Heimatländern geprägt.

    Für Länder wie Großbritannien und Spanien ist eine effiziente Terrorismusbekämpfung weiterhin der entscheidende Maßstab, auch bei Datensammlungen. Deutschen Bedenken begegnen sie mit Unverständnis. "Es gibt im Rat eine klare Mehrheit, die sagt: Spinnen die Deutschen?", bekennt freimütig Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). "Aber wir haben nun einmal diese besondere Tradition, es hilft nichts.“

    CDU-Mann de Mazière ist allerdings aus Sicht der Hardliner-Staaten nicht so sehr das Problem. Er demonstrierte zuletzt Europa-Treue, als er sich bei der Abstimmung über das umstrittenen Swift-Abkommen, das das Europaparlament im Februar kippte, im Ministerrat der Stimme enthielt.

    Mit größerer Sorge verfolgen insbesondere die Briten das Treiben der liberalen deutschen Justizministerin. Britische Diplomaten in Brüssel sind dieser Tage nicht nur hoch interessiert daran, wie sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger korrekt ausspricht. Sondern auch, wie die Dame tickt. Erst klagte die FDP-Politikerin höchstpersönlich in Karlsruhe mit gegen die Vorratsdatenspeicherung, dann empfahl sie dem Europaparlament auch noch, gegen das Swift-Abkommen zu stimmen. Was kommt als nächstes?

    Leutheusser-Schnarrenberger machte jedenfalls schon deutlich, dass sie beim Schutz der Bürgerrechte nicht klein beigeben will. Man dürfe "die Dinge nicht einfach auf uns zurollen lassen", sagte sie der ZEIT. Vom Europäischen Parlament erwartet sie, dass es sich eine "starke Position" erkämpft.

    Aber es gibt noch mehr widerspenstige Deutsche, die das Brüsseler Diplomatenkorps mit Argus-Augen verfolgt: die Verfassungsrichter in Karlsruhe. Noch, so machten die in ihrer Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung klar, hielten sie sich an den Grundsatz des sogenannten "Solange"-Urteils von 1986. Solange erkennbar sei, urteilte das Bundesverfassungsgericht damals, dass die europäische Rechtssetzung im Großen und Ganzen deutschen Grundrechtsstandards entspreche, solange werde das Karlsruher Gericht die Rechtmäßigkeit von EU-Vorschriften generell nicht überprüfen.

    Ob genau dieser Standard aber noch erfüllt ist, daran haben nach dem Lissabon-Vertrag die Karlsruher Verfassungshüter offensichtlich Zweifel. In ihrem Urteil zu dem Reform-Vertrag machten sie vergangenes Jahr deutlich, dass sie sich die Prüfung von "ausbrechenden EU-Rechtsakten" vorbehalten. Bei der Vorratsdatenspeicherung scheute Karlsruhe noch den offenen Konflikt mit Brüssel. Aber bei jeder weiteren aus Brüssel verordneten Beschränkung der Bürgerrechte könnten sie ihr Veto einlegen – und die EU-Richtlinie selbst für verfassungswidrig erklären. Dann stünde Europa vor der ungelösten Frage, wer letztendlich über die Freiheitsrechte der EU-Bürger wacht: die nationalen obersten Gerichte oder der Europäische Gerichtshof.

    Kleinere Staaten verweigern der Rechtspolitik der EU schon jetzt den Gehorsam. Irland, Österreich, Belgien, Schweden, Luxemburg und Griechenland haben die Vorratsdaten-Richtlinie bis heute nicht in nationales Recht überführt.

    Der SWP-Forscher Roderick Parkes vergleicht die zunehmenden Spannungen zwischen nationaler und internationaler Ebene in Europa mit einem drohenden "Supernova-Effekt": "Jetzt, unmittelbar nach Inkrafttreten von Lissabon, strahlt der Stern sehr hell. Aber es kann zur Implosion kommen. Die europäische Justiz- und Innenpolitik steht an einem Wendepunkt."

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    Finde den Artikel super interessant, hiebt das Problem der Datenvorratsspeicherung auf eine andere Ebene. Ich finde, die EU hat bei diesem Beschluss einen fehler gemacht und den soll sie zurücknehmen. nur weil GB wie die Amis Paranoia vor Terroristen haben, weil diese Länder gerne muslim. Staaten wegbomben, habe ich keine Lust vom Staat so kontrolliert zu werden. nur frage ich mich, wie es nun weiterläuft. Der EU Beschluss steht ja schon sehr lange fest und sollte eigentlich in nationales recht übergeführt werden. Finde es auch gut, dass manche Staat da noch nix gemacht haben. Vielleicht wird das Ganze wirklich gekippt.
    Ich finde es auch interessant, dass GB den Vorsitz übernimmt und paar Tage später geht eine Bombe hoch. Das kann man ja ausnutzen.
    Was ich noch als infoplus gewann...Unsere Justizministerin wird mir immer sympathischer.gogogo
     
  2. 7. März 2010
    AW: Innere Sicherheit - Wie Brüssel in die Bürgerrechte eingreift

    Für alle leute die immernoch a das gute in der Politik glauben: die EU wurde nicht für ihre Bürger geschaffen. Das hat die Politik mehrmals bewiesen. Nicht nur der Aufbau der EU sondern auch wie der Vertrag von Lissabon durchgepeitscht wurde ist skandalös. Da scheitert die EU-Verfassung an dem Referendum der Iren (weil die wenigstens gefragt wurden), da machen die den selben Vertrag mit n bisschen kosmetik und nennen das "Reformvertrag". Auch die Klausel, die die todesstrafe für aufständische, während Kriegszeiten und in Zeiten in den Krieg droht erlaubt, die von unserem Verfassungsschutz glücklicherweise umgangen wurde, zeigt, wie wenig dem unlegetimierten EU-Parlament an dem Europäischen Volk liegt.
     
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