Menschenfeindlichkeit - Ein Land, zwei Gesellschaften

Dieses Thema im Forum "Politik, Umwelt, Gesellschaft" wurde erstellt von graci, 5. Dezember 2008 .

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  1. 5. Dezember 2008
    DIE ZEIT, 04.12.2008 Nr. 50 [http://www.zeit.de/2008/50/Wiedervereinigung]


    Fast zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer bleibt Deutschland sozial gespalten – mit fatalen Folgen für Minderheiten

    Vor fast 20 Jahren standen wir vor einem Jahr, das die beiden deutschen Staaten und ihre zwei völlig unterschiedlichen Gesellschaften tiefgreifend verändern sollte. Im November 1989 fiel die Mauer. "Wiedervereinigung" war dafür das Schlagwort aus dem politischen Wörterbuch der BRD. Es ist irreführend, weil es diese Staaten und ihre Gesellschaften zuvor nie gegeben hatte, und gewissermaßen richtungslos, weil es keine Hinweise dazu hergibt, wohin sich die "neue" Gesellschaft entwickeln sollte.

    Willy Brandts oft verstümmelte Formel gibt dagegen wichtige Hinweise: "Aber mit Achtung und Respekt vor dem Selbstgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört." Daraus ergeben sich aus wissenschaftlicher Perspektive mehrere Fragen, die auf die Integration beziehungsweise Desintegration in der "neuen" Gesellschaft, auf das Verhältnis zwischen Ost und West, auf die Zustimmung zur Demokratie, auf Demokratie gefährdende rechtspopulistische Einstellungen sowie auf die Abwertungen und Diskriminierungen von schwachen Gruppen zielen.

    Worum geht es? Die Integration in einer Gesellschaft wird nicht nur von der objektiv gegebenen Gelegenheit des Zugangs zum Arbeitsmarkt, der Teilnahmemöglichkeiten an öffentlichen Auseinandersetzungen, also politischer Partizipation, um soziale Gerechtigkeit, Solidarität et cetera zu erstreiten, sowie der stabilen Zugehörigkeit zu Familien oder Milieus bestimmt, sondern auch von der Anerkennung, die die Menschen subjektiv erfahren.

    Hat diese Gesellschaft diese Aufgaben gelöst? Wenn sie nicht gelöst werden, ist zu erwarten, dass Desintegrationsängste, Benachteiligungsgefühle und Anerkennungsdefizite auch die Abwertung und Diskriminierung schwacher Gruppen nach sich ziehen. Dafür haben wir empirische Belege. Die offene Frage ist, wo sich diese Ursachen der Anerkennungsverluste mit Blick auf das vereinigte Deutschland besonders finden und für wen sie negative Konsequenzen haben.

    Betrachtet man nun zuerst die Situation zwischen Ost- und Westdeutschen im Sinne Willy Brandts, dann ist Skepsis gegenüber einer gelungenen Integration geboten, denn das Gefühl der Benachteiligung ist in Ostdeutschland weit verbreitet.

    Die gegenseitige Anerkennung der Bürger in den alten und neuen Bundesländern ist nicht besonders ausgeprägt. Zwei Drittel der Ostdeutschen sind in 2008 der Meinung, dass sich Westdeutsche zu wenig um Verständnis für ihre Situation bemühen und ihre Leistungen unzureichend würdigen. Umgekehrt hat aber auch gut die Hälfte der Westdeutschen das Gefühl, ihre Leistungen würden nicht angemessen anerkannt, und knapp die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, die Ostdeutschen bemühten sich zu wenig um Verständnis für ihre Situation. Diese Zahlen deuten auf gespannte Ost-West-Beziehungen hin. Insgesamt betrachtet, zeigen die Daten, dass das Gefühl der Benachteiligung in der ostdeutschen Bevölkerung deutlich stärker ausgeprägt ist. Die positive Perspektive: Bei den Jüngeren aus Ostdeutschland zeigen sich weniger Benachteiligungsgefühle.

    Auch die individuelle Integration in die gesellschaftlichen Institutionen ist prekär, denn es stieg der Anteil derer, die in den nächsten fünf Jahren eine Verschlechterung ihrer eigenen wirtschaftlichen und sozialen Situation erwarteten – schon vor der Finanzkrise –, von fast 28 Prozent in 2007 auf fast 42 Prozent in 2008. Anerkennungsbedrohungen und Benachteiligungsgefühle gegenüber anderen sind verbunden mit der Abwertung und Diskriminierung schwacher Gruppen. Gleichwohl vollzieht sich dies in unterschiedlichen Entwicklungen, wie die Daten zu ausgewählten Syndromelementen zwischen 2002 und 2008, also über die letzten sieben Jahre zeigen.
    Die konkurrenzbasierte Fremdenfeindlichkeit geht erfreulicherweise seit 2005 in beiden Landesteilen zurück, was möglicherweise der positiven Arbeitsmarktentwicklung angerechnet werden kann. Gleichwohl sind die Werte für Ostdeutschland über alle sieben Jahre unseres Erhebungszeitraumes hinweg deutlich höher.
    Die Kurven zum Antisemitismus entwickeln sich parallel, wobei wir einen leichten Rückgang der entsprechenden Einstellungen beobachten. Betrachtet man die prozentualen Anteile der Menschen, die antisemitischen Aussagen zustimmen, so fallen die Werte in Westdeutschland nach wie vor höher aus.
    Die generalisierte Abwertung des Islams entwickelt sich in beiden Landesteilen dagegen sehr unterschiedlich. Während sie im Osten – weitgehend ohne Anwesenheit von Muslimen und ihrer Symbole – zunimmt, geht sie im Westen zurück.
    Die Abwertung von Obdachlosen scheint sich in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich zu entwickeln. Während die Werte für die neuen Bundesländer über den ganzen Beobachtungszeitraum hinweg etwas höher waren, deuten sich im Jahr 2008 eine Zunahme im Osten und eine Abnahme im Westen an.
    Der klassische Sexismus entwickelt sich wechselhaft. Das wichtigste Ergebnis besteht darin, dass die Werte über alle sieben Jahre hinweg in Ostdeutschland stets niedriger waren. Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, die bei insgesamt sinkenden Werten für beide Landesteile zeitweilig sichtbar waren, scheinen allerdings kleiner zu werden.

    Diese Entwicklungen der Einstellungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Ost- und Westdeutschland steigen danach weder in allen Syndromen linear an, noch nehmen sie monoton ab – entgegen manchen Eindrücken, die in journalistischen Beiträgen oder politischen Verlautbarungen erweckt werden. Die Entwicklung ist komplizierter, ja zum Teil auch widersprüchlich.

    Warum ist dies so? Angesichts der aktuellen Krise ist der Blick auf die Entwicklung entlang des wirtschaftlichen Abschwungs von 2002 bis 2005 aufschlussreich. Es gab Zunahmen der feindseligen Mentalitäten in mehreren Syndromen. 2006 und 2007 nahm infolge des kurzzeitigen Aufschwungs auf dem Arbeitsmarkt dagegen in Ost- und Westdeutschland die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ab. Gleichwohl bleiben die Ursachenmuster erhalten. Die Analysen zeigen Fremdenfeindlichkeit als ursächliche Folge von mangelnder sozialer Unterstützung und wahrgenommener Prekarität am Arbeitsplatz. Die Entwicklung verläuft also nicht unabhängig voneinander.

    Damit wächst die Verantwortung wirtschaftlicher und politischer Entscheidungsträger für den sozialen Zusammenhalt aller, die in dieser Gesellschaft leben – denn sonst nehmen die Abwertungen und Diskriminierungen von schwachen Gruppen zu.

    Die Interventionen werden schwierig, in jedem Fall dann, wenn – wie unsere Ergebnisse zeigen – rechtsextremistische Wahlerfolge auf lokaler oder regionaler Ebene zunehmend als normal akzeptiert werden. Denn alles, was als normal gilt, ist kaum noch zu problematisieren. Mangelnde Zivilcourage ist in abwärtsdriftenden Regionen schon gar nicht mehr unmittelbar durch eigene Feindseligkeit gegen Opfergruppen bestimmt, sondern wird durch die Normalisierung des Rechtsextremen getragen. Hinzu kommt in diesen Regionen, dass sich immer niedrigere Wahlbeteiligungsquoten abzeichnen und so ein hohes, der Demokratie entfremdetes Wählerpotenzial brachliegt. Die politische Entfremdung ist ernst zu nehmen: Zum einen führt der Zusammenhang zwischen fremdenfeindlichen Einstellungen und politischer Entfremdung dazu, dass die Akzeptanz für die Gleichwertigkeit aller Menschen schwindet; zum anderen ist das Gefühl der Machtlosigkeit und Entfremdung eine wichtige Ursache der Nichtbeteiligung an Wahlen et cetera, die wiederum die Legitimität demokratischer Prozesse infrage stellt. Diese Zusammenhänge zeigen sich vor allem in Regionen Ostdeutschlands, sie sind aber nicht darauf begrenzt.

    Welche "Zwischenbilanz« kann man also fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration und das Verhältnis zum demokratischen System aus der Perspektive dieser Langzeitstudie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ziehen?

    Fünf Punkte sollen hervorgehoben werden:
    Die objektive soziale Spaltung (gemessen an der Entwicklung des Nettogeldvermögens) nimmt 20 Jahre nach der Vereinigung in Deutschland insgesamt, aber auch im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland dramatisch zu.
    Die Fremdheit zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland ist geblieben, ein hoher Anteil (55,3 Prozent West, 67,4 Prozent Ost) sieht immer noch die Grundverschiedenheit.
    Die Gefühle der Desintegration und Benachteiligung der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber der westdeutschen existieren auch nach 20 Jahren, viele Ostdeutsche sehen sich "als Bürger zweiter Klasse". Die damit verbundenen Benachteiligungsgefühle können für die höhere Übernahme rechtspopulistischer Einstellungen und Demokratiekritik oder -ablehnung in Ostdeutschland verantwortlich sein. Allerdings: Westdeutsche, die sich ähnlich benachteiligt sehen, sind tendenziell noch auffälliger.
    Das Verhältnis zum demokratischen System ist in Ostdeutschland signifikant negativer. Dies zeigt sich auch daran, dass die Wahlbeteiligung dort deutlich niedriger ist und dass antidemokratische, rechtsextreme Parteien wie die NPD in einem höheren Ausmaß als "normal" gelten.
    Betrachtet man die Entwicklung des Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit für den Zeitraum von 2002 bis 2008 aus der Ost-West Perspektive, dann zeigen sich differenzierte Verläufe. Bei fünf der insgesamt zehn Elemente sind die Werte im Osten 2008 höher als in Westdeutschland. Dagegen sind in der westdeutschen Bevölkerung sexistische Einstellungen, wenngleich mit abnehmender Tendenz, nach wie vor stärker vertreten.

    Fast 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer präsentiert sich Deutschland zwar der Welt als staatliche Einheit, aber wir leben nach wie vor in zwei Gesellschaften. Willy Brandts Vision ist in diesem Sinne noch nicht Realität geworden: Es gibt nach wie vor "entstellende Narben", und der Umgang miteinander ist keineswegs immer von Achtung, Respekt und Anerkennung geprägt. Das gilt sowohl in sozialer, mentaler als auch politischer Hinsicht – mit bedrückenden Folgen für schwache Gruppen und für die Einstellung gegenüber dem politischen System der Demokratie als normativer Grundlage dieser Gesellschaft. Die gesellschaftliche Situation ist labiler, als es der Öffentlichkeit bewusst ist, zumal die Auswirkungen der dramatischen Finanzkrise seit Oktober 2008 mit den unabsehbaren Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und das Vertrauen in das demokratische System in der Zukunft vollkommen unklar sind.

    Die Langzeituntersuchung wird von einem Stiftungs- Konsortium unter Federführung der VolkswagenStiftung finanziert. Die gesamten Ergebnisse sind in dem Band "Deutsche Zustände", Folge 7 (Suhrkamp) enthalten

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    ich lese 19437259724 mal häufiger von der Integration von Ausländern, dabei können sich die Deutschen selbst nicht integrieren, hehe. Kann dem Bericht auch zustimmen. In Berlin wird ziemlich stark von den "Ossis" abfällig geredet. In Hamburg war das Thema nicht soo stark.
     
  2. 7. Dezember 2008
    AW: Menschenfeindlichkeit - Ein Land, zwei Gesellschaften

    hab den artikel jetzt mal nur überfolgen wenn ich ehrlcih bin weils mir zu viel zum lesen ist... aber muss schon sagen dass da viele wahre aussagen drin stehen aber auch einige übertriebene.

    die meisten "west deutschen" sind ja nicht zufrieden damit dass sie von den "ost deutschen" nicht mehr getrennt sind, da sie z.b. ihr hart verdientes geld in den wiederaufbau des ostens stecken müssen. obwohl dieser ja schon wieder aufgebaut ist, müssen sie das td weiter unterstützen...

    bald gibt es auch keine 3 klassen gesellschaft mehr sondern mehr so wie in den usa:

    eine obere und eine untere. zu deutsch: verschuldet / unverschuldet.

    @ threadersteller: mutig
     
  3. 7. Dezember 2008
    AW: Menschenfeindlichkeit - Ein Land, zwei Gesellschaften

    Nice, finds gut, dass du was dazu sagst

    Außerdem @ Znow, lass den Thread ruhig mal offen, ist ein interessantes Thema.

    Klar, die Westdeutschen sind vom sozialen Standard damals etwa 100 Stufen höher gewesen, allein schon aufgrund der verschiedenen Wirtschaften.
    Mittlerweile gleicht sich das alles ein wenig aus, jedoch ist es oft noch so, dass Westdeutsche die altbekannten "Ossis" nicht leiden können, weil diese eben die Staatsgelder, die die Westdeutschen felißig einzahlen für den Wiederaufbau verwenden.
    Langsam sollte sich das aber legen.
    Finde "Zwei Gesellschaften" total übertrieben ausgedrückt.
     
  4. 7. Dezember 2008
    AW: Menschenfeindlichkeit - Ein Land, zwei Gesellschaften

    hat jemand zahlen, wievielen immer noch in den Osten gesteckt wird? Am besten so eine Verlaufskurve...
     
  5. 7. Dezember 2008
    AW: Menschenfeindlichkeit - Ein Land, zwei Gesellschaften

    Habe den Artikel jetzt auch nur überflogen (wenn ich konzentrierter bin, lese ich ihn nochmal durch), aber er ist wirklich mal sehr interessant.
    Ich selbst bin ehemaliger Ostbürger (sogar noch in der DDR geboren).
    Wohne aber jetzt schon seit 13-14 Jahren im Westen. Und selbst heute bekomm ich mal einen blöden Spruch ab, wenn ich Leuten sage, wo ich eigentlich geboren wurde.
    Das ist für mich ja nicht schlimm, aber auf Dauer kann sowas auch so wirken, dass man ausgegrenzt und diskriminiert wird. Bis dato waren es nur Freunde. Aber würde mir ein Fremder ernsthaft weißmachen wollen, dass ich als Ossi nichts wert bin, würde ich ihn nur auslachen und als "DeutschNazi" bezeichnen.


    Was ich noch sagen wollte, war nicht dein erster Thread, der geclosed wurde mit der Begründung, dass da was fehlt oder? Finde es mutig, dass du den Thread wieder aufgemacht hast und deine Einwände waren vollkommen nachvollziehbar. *thumbs up*
    Wäre also schön, wenn der Thread weiterhin bestehen bleibt. Werde sicher heute Abend nochmal genauer zur Thematik was sagen.
     
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