#1 15. August 2007 Kampf ums Wissen geht in die nächste Runde Ein Student hat mit Wikiscanner eine Software veröffentlicht, die anonyme Änderungen in der englischen Wikipedia anhand ihrer IP-Adressen denjenigen Organisationen zuordnet, aus deren Netz die Änderungen erfolgten. Das Wired-Blog Threat Level sammelt eine Liste der auffälligsten Aktivitäten. Bei Wikipedia dürfen im Grunde alle alles schreiben. Richtiges, Falsches, Wichtiges und Belangloses finden sich mehr oder weniger einträchtig nebeneinander. Eine Zensur findet nicht statt – so die Theorie. In der Praxis hat sich jedoch schon öfter herausgestellt, dass die scheinbare Anonymität beim Bearbeiten von Einträgen dazu führt, dass unliebsame Information absichtlich gestreut oder gelöscht werden. Da solche Vorfälle bisher nur gelegentlich aufgedeckt wurden, konnte der Umfang der "Zensur von unten" nicht abgeschätzt werden. Virgil Griffith, Student am California Institute of Technology (CalTech), beschloss, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Er schrieb eine Software, die anhand der IP-Adressen den Ursprung einer Änderung in der englischen Wikipedia ermittelt und Organisationen beziehungsweise Blöcken von IP-Adressen zuordnet. Der Wikiscanner steht im Internet bereit und lässt die Interessierten über eine einfache Eingabemaske anhand der Namen von Organisationen, ihrer Adressen oder bekannter IP-Adressblöcke nach den aus den dortigen Netzwerken vorgenommenen Wikipedia-Änderungen forschen – wenn der gut besuchte Server nicht gerade überlastet ist. Das Wired-Blog Threat Level hat damit begonnen, eine Liste der auffälligsten Aktivitäten zu sammeln. Zu den "Top"-Aktivisten der "Zensur von unten" gehören demnach Mitarbeiter von Diebold, Hersteller von Wahlmaschinen, die keine Kritik an ihren Produkten dulden wollen; Mitglieder von Scientology, der selbst ernannten Glaubensgemeinschaft, die ihre Versionen verschiedener Ereignisse publik machen wollen; Angestellte des Ölkonzerns ExxonMobil, die den Tankerunfall der Exxon Valdez beschönigen; Angestellte des Medienkonzerns Disney, die Hinweise auf den DRM-Kritiker Cory Doctorow löschten; AstraZeneca-Mitarbeiter, die Medikamentenrisiken herunterspielen; Angestellte des Chemiekonzerns Dow, denen Hinweise auf Bhopal, Agent Orange und Brustimplantate im Zusammenhang mit ihrer Firma missfielen; und so weiter und so fort – die Liste ist lang. Das, was viele Wikipedia-Schreiber und –Kritiker insgeheim schon vermutet hatten, findet mit Hilfe des Wikiscanners eine klare Bestätigung: Unternehmen, Politiker, Organisationen von Aktivisten und Individuen tragen mit Hilfe von Wikipedia einen Kampf ums Wissen aus. Die liberalen oder gar fehlenden Kontrollmechanismen der Wikipedia führen dazu, dass in vielen Fällen statt Wissen Ideologie in den Einträgen landet. Die Glaubwürdigkeit der Institution Wikipedia dürfte von Wikiscanner schwer erschüttert werden. Es bleibt die Frage, ob und wie die Wikimedia-Foundation als Träger der Wikipedia darauf reagieren wird. Darüber hinaus könnte sich eine weiterreichende Affäre entwickeln. Wenn Firmenmitarbeiter Konkurrenten in Misskredit bringen, Angestellte Produktrisiken herunterspielen und Politiker Gegenkandidaten schlecht machen, dann steht mehr auf dem Spiel als "nur" die Reputation von Wikipedia. Dann wäre in dem einen oder anderen Fall zu prüfen, ob nicht ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht oder sogar strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt. Es wird spannend, wenn der Wikiscanner auch für die deutsche Wikipedia zum Einsatz kommt... quelle: Golem.de + Multi-Zitat Zitieren